ContraDemokratieferne Streitlust
Es gab gewalttätige Proteste und Anschläge im Namen des „Widerstands gegen das System”. Denn Terrorakte lassen sich nicht immer verhindern. Umso deutlicher muss sich ein demokratisches Land davon distanzieren und präventiv dagegen vorgehen. Und das tun wir.
Nein, wir abschieden uns nicht von demokratischen Protestformen, obwohl es seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober in ganz Deutschland zu teilweise gewalttätigen Demonstrationen für die „Befreiung Palästinas“ gekommen ist. Nicht nur wurden dabei Beamte mit Flaschen oder Feuerwerkskörpern verletzt, auch antisemitische Vorfälle haben zugenommen. Am 18. Oktober wurde ein Brandanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum in Berlin Mitte verübt. „Hier ist eine harte Kante gefragt”, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) tags darauf in einer Regierungserklärung.
Muss man sich nun vor gewaltsamen Umstürzen und Attentaten fürchten? In die Zukunft kann niemand schauen. Bislang bestand die Protestkultur auf einem demokratischen Fundament, das für Stabilität innerhalb der deutschen Gesellschaft sorgt. Doch es gab Ausnahmen, die man nicht vergessen sollte.
Stillstand rechtfertigt keine Gewalt
So wie Scholz verurteilen viele Politiker:innen die Gewalt auf den sogenannten „Pro-Palästina-Demos“. Das tun sie zu Recht. Demokratie lebt vom freien Meinungsaustausch und sachlichen Debatten. Diese Freiheit endet, sobald Gewalt verherrlicht und Hass geschürt werden. Wenn man glaubt, für die „eigene Sache” ließe sich auf friedlichem Weg nichts mehr erreichen, rechtfertigt das keineswegs den Einsatz von Gewalt und Hetze.
Ja, weltweit nehmen antidemokratische und populistische Tendenzen zu. Das trifft sowohl auf krisengebeutelte Länder wie Argentinien und auf demokratische Staaten wie die USA zu. Deutlich wird das bei Letzterem an den Entscheidungen des Supreme Courts, des obersten Gerichts: 2022 wurde das ehemals US-weite Recht auf Abtreibung zur Sache der einzelnen Bundesstaaten. Gleichzeitig häufen sich in konservativen Bundesstaaten Gesetzesvorlagen, die sich gegen Minderheiten richten. So wurde in Florida ein Gesetz („Don’t say gay“) beschlossen, das Lehrkräften verbietet, Kinder unter zehn Jahren über sexuelle Orientierung und Identität zu unterrichten.
Angesichts dieser besorgniserregenden Entwicklungen muss gerade eine moderne, aufgeschlossene Gesellschaft wie die in Deutschland mit demokratischem Protest dagegenhalten. Und sie kann es. Auf den Straßen finden überwiegend friedliche Demonstrationen statt, die legitim sind und notwendig.
Demokratischer Protest hat Erfolgschancen
Bereits in der alten Bundesrepublik traf demokratisch geäußerter Protest auf Akzeptanz. Die linke 68er-Bewegung ist ein gutes Beispiel dafür: Nach und nach wurden Forderungen der Studentenbewegung, wie die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und mehr Gleichberechtigung, staatlich umgesetzt. Der 1967 von Rudy Dutschke proklamierte „Marsch durch die Institutionen“ war zuvor als strategische Methode anerkannt worden, um langfristig durch gewaltfreie Teilhabe in politischen Entscheidungsprozessen involviert zu werden.
Und die “68er“ bleiben in der Geschichte des demokratischen Aktivismus kein Einzelfall. Nach starker öffentlicher Kritik an den Verantwortlichen der „Spiegel-Affäre“ fällte das Bundesverfassungsgericht (BVG) ein Urteil, das die Pressefreiheit in der BRD noch heute besser schützt. Im Sinne demokratischer Willensbildung obliegt es demzufolge der Presse, die Öffentlichkeit über wichtige staatliche Handlungen zu informieren und diese kritisch zu hinterfragen. Zensur darf nicht stattfinden. Nichtsdestotrotz müssen gegenläufige Ziele wie die Notwendigkeit einer staatlichen Geheimhaltung vorab rechtlich abgewogen werden.
Demokratien müssen sich auf Gewalt einstellen
Im krassen Gegensatz dazu steht der “Protest” der deutschen Roten Armee Fraktion (RAF), deren Terroranschläge insgesamt 34 Menschen das Leben kosteten. Die Öffentlichkeit war sich darin einig, diese Form des Protests zu verurteilen. Die RAF ist aus einem Gefühl der Ohnmacht entstanden, man wollte Veränderung, und zwar schnell. Jedoch brachte diese neue Eskalationsstufe der Gewalt aus Sicht der RAF nicht den gewünschten Erfolg. Weder haben sie politisch etwas erreicht, noch besaßen sie die Unterstützung der Bevölkerung.
Terrorakte wie der Anschlag palästinensischer Terrorist:innen der Gruppe Schwarzer September auf israelische Sportler:innen während der Olympischen Spiele 1972 in München zeigen dagegen, dass gewalttätiger “Protest“ im Kontext ausländischer Konflikte auch auf demokratischem Boden stattfinden kann. Damals wurden unter anderem elf israelische Sportler:innen ermordet, die zuvor als Geiseln genommen worden waren. Dass es so weit kommen konnte, ausgerechnet in Deutschland, lag an den überforderten Sicherheitsbehörden, die mit derlei im eigenen Land knapp dreißig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg offenbar nicht gerechnet hatten.
Letztes Mittel: Demo-Verbote
Unhinterfragt ist die Aufgabe eines Staates und dessen Regierung, die Sicherheit aller Bürger:innen zu gewährleisten. Wenn Demonstrationen nicht gemäß demokratischer Regeln stattfinden oder mit Gewalt zu rechnen ist, müssen diese notfalls im Vorhinein behördlich verboten oder aufgelöst werden. Auch das gehört zum System Demokratie.
Trotzdem sollten Demo-Verbote das letzte Mittel sein. Die Versammlungsfreiheit ist ein lang erkämpftes Grundrecht. Und es verlangt, immer wieder deutlich festzuhalten, wo die Grenzen zwischen legitimem und das gesellschaftliche Zusammenleben lähmendem Protest zu ziehen ist. Streitlust gehört zur DNA einer funktionierenden Demokratie. Solange wir von uns selbst und anderen demokratische Maßstäbe einfordern, sind wir auf einem guten Weg. Mit oder ohne Protestschild.