Digitalisierung nutzt allen, also fast
Sie macht den Alltag leichter, jedenfalls den vieler Menschen. Doch nicht alle profitieren gleichermaßen. Wo das Analoge verschwindet und/ oder das Digitale nicht richtig begleitet und vermittelt wird, schließt die Gesellschaft ganze Bevölkerungsgruppen aus.
Einsteigen, egal durch welche Tür. EC-Karte, Handy oder Smartphone mit NFC-Chip an einen Sensor halten – und desgleichen beim Ausstieg. Der fällige Betrag wird anschließend automatisch vom Konto abgebucht. Kein Studium der Ticketpreise, kein Kleingeldsuchen bei der Busfahrerin. Was beispielsweise in den Niederlanden in Utrecht längst Realität ist, das ist in Deutschland vielerorts eine Utopie. Hier heißt es „Einstieg vorne“ und Ticket den oft mäßig interessierten Busfahrer*innen vorzeigen. Bis vor kurzem mussten auch Studierendentickets in einigen Bundesländern ausgedruckt mitgeführt werden. Warum kommt die Digitalisierung hier nicht voran?
Digitales Deutschlandticket – nicht sozialverträglich?
Schwung in die Debatte kam durch das Deutschlandticket. Neben Fragen, wie das Ticket heißen solle (der Vorschlag “49 Euro-Ticket“ wurde abgelehnt, weil das Abo auch teurer werden können sollte), wurde auch diskutiert, das Ticket als rein digitales Abo anzubieten. Das Bündnis für sozialverträgliche Mobilitätswende, ein Zusammenschluss aus Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbänden sowie der Evangelischen Kirche, sprach sich dagegen aus. Barrierefreiheit bedeute, dass Tickets auch analog gekauft werden können müssen, betont der Sozialverband Deutschland (SoVD) in einer Pressemitteilung. Die Vorteile der Digitalisierung knüpft das Bündnis in einer gemeinsamen Veröffentlichung an die Voraussetzung, dass digitale Angebote „durch Informationskampagnen und Schulungen zugänglicher werden“.
Was in den Ohren vieler digital-affiner Menschen gut klingt, schließt ganze Bevölkerungsgruppen schlicht aus. Teilhabe am rein digitalen Ticket-Abo setzt voraus, über ein Bankkonto zu verfügen, ein Smartphone zu besitzen, mobile Daten nutzen zu können, eine Internetverbindung zu haben. Und das ist in Deutschland auch im Jahr 2024 keine Selbstverständlichkeit. Die Bundesnetzagentur führt eine Karte mit Funklöchern; trotz drohender Strafen für die Netzbetreiber wurden zahlreiche Lücken in den vergangenen Jahren nicht geschlossen. Vielerorts gibt es nur einen Anbieter und was die Nutzung eines Smartphones betrifft: Einerseits besitzen neun von zehn Menschen unter 50 Jahren ein solches, jedoch nur knapp die Hälfte der über 65-Jährigen.
Digitalisierung als Kompetenz – von jung bis alt
Der Umgang mit der digitalen Welt will aber gelernt sein – und zwar unabhängig vom Alter. Diese Herausforderung des Digitalen betrifft auch die jüngere Generation, die mit dem Internet als selbstverständlichem lebensweltlichen Teil aufwächst.
So beschreiben Wissenschaftler*innen im 2020 veröffentlichten 16. Kinder- und Jugendbericht im Auftrag der Bundesregierung den „Digital Divide“: „Jugendliche aus bildungsaffinen Familien verfügen häufig über bessere computerbezogene Kompetenzen, haben das größere soziale Netzwerk, nutzen Bildungsangebote häufiger und engagieren sich stärker bei politisch-gesellschaftlichen Online-Aktivitäten“. Sie schlussfolgern, dass aktive Medienkompetenz „mehr ist als nur die technische Fertigkeit im Umgang mit den Endgeräten.“ Weiterhin betonen die Autor*innen die Ambivalenz der Digitalisierung für die Entwicklung der Demokratie. Einerseits hätten Soziale Netzwerke beispielsweise maßgeblich zur Vernetzung und Mobilisierung der Fridays for Future-Proteste beigetragen, andererseits würden die Hemmschwellen zur Beleidigung und Bedrohung im Internet sinken und das Ausüben der Meinungsfreiheit sogar einschränken.
Technik, Kultur und Bildung müssen zueinander passen
Digitalisierung umfasst sowohl Infrastruktur, Zugang zu Laptop, Tablet und Smartphone als auch Kompetenzen im Umgang mit digitalen Räumen. Das Zusammenspiel entscheidet darüber, inwiefern und von wem die Potenziale des Digitalen genutzt werden können.
Gerade mit Blick auf die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz droht die digitale Spaltung noch größer zu werden. Um dem entgegenzuwirken, veröffentlichte Wikimedia Deutschland unlängst eine Handlungsempfehlung für Politiker*innen zum Thema Offene KI im Bildungsbereich. Lehrende sollen freien, kostenlosen Zugang zu KI-Anwendungen erhalten, um die Funktionsweisen, Nutzungsmöglichkeiten und Auswirkungen von KI-Anwendungen auf das Lehren und Lernen kennenlernen und beurteilen zu können.
Der Verein mit seinen mehr als 100.000 Mitgliedern setzt sich dafür ein, dass alle Menschen freien Zugang zu Wissen und Bildung haben. Aktive der elterlichen Plattform Wikipedia haben den Verein vor 20 Jahren gegründet. Im Bereich Digitalisierung fordert Wikimedia den freien Zugang zu öffentlich finanzierter Hard- und Software, Bildungsanwendungen und -materialien und KI-Systemen für alle Menschen. Sie sind überzeugt: Open Source und Open Data gewährleiste Transparenz und Mitbestimmung sowie Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen – und beuge somit der Ausgrenzung von Menschen aus ökonomischen Gründen vor.
Nur unter der Bedingung, dass Technologie, gesellschaftliche Kultur und Bildungsangebote zusammenpassen, profitieren alle von der Digitalisierung, bleibt niemand auf der Strecke.
Übrigens: Die Utopie des digitalen Tickets für einzelne Fahrten ist in Nordrhein-Westfalen inzwischen teils Realität. Mit “eezy“ wurde hier im Auftrag des Verkehrsministeriums ein Angebot geschaffen, mit dem man auf dem Handy ein- und auschecken kann. Vor der ersten Nutzung muss man eine der 34 Apps herunterladen, in denen der Tarif integriert ist, seine Zahlungsdaten hinterlegen und das System verstehen — aber dann heißt es: einsteigen und einfach losfahren.