ContraSchneller, höher, selbstgerechter
Die Pariser Spiele behaupten von sich, die erste geschlechtergerechte Olympiade der Geschichte sein. Doch wer das für bare Münze nimmt, sitzt einem Etikettenschwindel auf.
Die französischen Gastgeber haben hohe Ansprüche an sich selbst. Einen ganz besonderen Fokus setzen die Organisator*innen diesmal auf die Geschlechtergerechtigkeit der Wettkämpfe: Erstmals treten genauso viele Athletinnen wie Athleten bei den Spielen an.
Als “bahnbrechenden Meilenstein” feiern die Ausrichter*innen deshalb die Spiele (und damit auch sich selbst) schon jetzt. Ein genauerer Blick verrät allerdings, dass nicht alles Gold ist, was progressiv glänzt.
Trügerische Zahlenspiele
Schon im März verkündete das Internationale Olympische Komitee (IOC) stolz, dass 2024 erstmals genauso viele Startplätze für Frauen wie für Männer vergeben werden. Dass die Hälfte der rund 10.500 wetteifernden Athleten weiblich sein wird, ist ein großer und wichtiger Erfolg.
Umso symbolischer wird er dadurch, dass Paris im Jahr 1900 die ersten Olympischen Spiele austrug, bei denen Frauen überhaupt antreten durften – damals mit gerade einmal 22 von fast 1000 Wettkämpfer*innen.
Doch so wichtig diese rasante Zahlenentwicklung auch ist: Sie zeigt nur einen Teil der Wahrheit. Die Probleme im Sport liegen tiefer, als ein bloßes Durchzählen der Teilnehmenden vermuten lassen würde.
Bloß, weil gleich viele Frauen wie Männer bei der Olympiade antreten, heißt das noch nicht, dass sie auch gleich viele Medaillen gewinnen können. 152 Medaillendisziplinen für Frauen stehen nämlich in Paris 157 Wettbewerben für Männer gegenüber. Hinzu kommen 20 Mixed-Events, bei denen gemischte Teams gegeneinander antreten. Das IOC leitet daraus ab, dass “mehr als die Hälfte der Medaillenevents” in Paris für Frauen offenstehen. Was sie damit verschweigen: Es sind immer noch weniger als für Männer.
Außerdem können 20 gemischte Disziplinen 300 geschlechtergetrennten nur bedingt die Stirn bieten. Das trifft umso mehr zu, da ein Großteil der Mixed-Disziplinen nicht zu den Publikumslieblingen zählt. Turnen erfreut sich derweil großer Beliebtheit bei den Zuschauer*innen, aber ist strikt getrennt.
Dieser Makel der Einschaltquoten ließe sich mit der Ausweitung von Teamwettkämpfen womöglich etwas lindern. Eine weitreichende Lösung ist damit jedoch nicht gefunden. Denn viele Sportarten sind schlichtweg auf Einzelwettbewerbe ausgelegt – und in kaum einem Bereich wird das offensichtlicher als im Kern der Spiele: der Leichtathletik.
46 getrennten Disziplinen stehen hier nur die 400-Meter-Staffel und der dieses Jahr neu hinzugekommene Wettbewerb im Gehen gegenüber. Speere werfen sich genauso schlecht im Team wie Hämmer, Kugeln oder Diskusse und auch Springen lässt es sich am besten allein.
Coachen bleibt Männerdomäne
Um die Sportwelt, und insbesondere die Leichtathletik, geschlechtergerechter zu machen, braucht es zwei parallele Ansätze. Einerseits muss es Frauen endlich ermöglicht werden, nicht nur gleichberechtigt an Wettbewerben teilzunehmen, sondern auch genauso oft gewinnen zu können wie Männer und diese Siege mit der gleichen öffentlichen Strahlkraft feiern zu dürfen.
Die Goldmedaille der kenianischen Langstreckenläuferin Peres Jepchirchir beim Frauenmarathon 2021 in Tokio war eine Weltklasseleistung. Doch die meisten erinnern sich nur an ihren Landsmann Eliud Kipchoge, der einen Tag später den Sieg in derselben Disziplin einfuhr.
Eine der größten Hürden für gerechteren Sport befindet sich zudem abseits der Wettkampfbühne. Hinter nahezu allen erfolgreichen Sportler*innen stehen Coaches und Trainer*innen. In Tokio waren aber nur 13 Prozent davon Frauen. Mithilfe eines Förderprogramms hat sich das IOC auch hier vorgenommen, nachzubessern. Doch trotz aller Bemühungen wird dieses Jahr bestenfalls eine von vier Spitzenpositionen im Coaching weiblich besetzt sein.
Die Spiele von Paris werden neue Superlative setzen: Sie werden nicht nur schneller und höher, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch nachhaltiger und gerechter werden. Frankreich sieht sich mit seiner Agenda deshalb schon am Ziel dieser Bestrebungen. Doch in Wirklichkeit handelt es sich lediglich um einen beachtlichen Schritt in einem noch langen Rennen. Bis das Versprechen von geschlechtergerechtem Sport auch an der Seitenlinie ankommt, gilt es noch einige Meter zu machen.