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Wenn Mama ermordet wird

Von Anna Abraham, Tony Kirby / 4. Dezember 2024
picture alliance / Westend61 | Oscar Carrascosa Martinez

Allein in diesem Jahr gab es mehr als 745 Femizide in Kolumbien. Viele der Frauen hinterlassen Kinder. Hilfe vom Staat gibt es kaum.

Am 12. Mai 2022, einem Donnerstag, klingelte Camilo Beltráns Telefon um drei Uhr morgens. Es war seine Mutter. Was sie ihm mitteilte, konnte er zuerst nicht glauben. Seine Schwester Leidy war tot. „Am Tag vorher hatte ich noch mit ihr gesprochen”, sagt er. In einem Anfall von Eifersucht hatte Leidys Partner sie mit einem Messer erstochen.

Camilo Beltrán erinnert sich an seine Schwester als eine fleißige Frau, sehr engagiert für ihr Zuhause und ihre Familie. Einer ihrer Träume, sagt er, war es, ihre zwei Töchter aufwachsen zu sehen, bei der Schulabschlussfeier dabei zu sein und sie schließlich zur Universität zu schicken. Aber am Muttertag vor zwei Jahren wurde Leidy ermordet und Camilo unerwartet Vaterfigur für damals vier und zehn Jahre alte Mädchen. Leidy wurde nur 29 Jahre alt.

Camilo Beltrán mit seiner Schwester Leidy, als sie noch Kinder waren.
Foto: Camilo Beltrán

Laut Angaben der NGO Observatorio del Feminicidio gab es allein dieses Jahr schon mehr als 745 Femizide in Kolumbien. Viele von den Frauen waren Mütter und haben Kinder zurückgelassen. Wie viele genau weiß keiner, denn die Behörden führen keine Statistiken darüber. Die NGO versucht deswegen zu schätzen. Jedes Mal, wenn eine Zeitungsmeldung erwähnt, dass die Frau Mutter war, bedeutet das mindestens eine Waise mehr. Das Ergebnis: mindestens 254 Mädchen und Jungen, die ihre Mutter auf gewaltsame Weise verloren haben.

Genau wie Leidys Töchter. Vor dem Femizid habe es Warnzeichen gegeben. Leidys Partner, der nicht der Vater ihrer Töchter ist, habe besitzergreifendes und eifersüchtiges Verhalten gezeigt und versucht, sie durch Warnanrufe zu kontrollieren. Einmal erschien sie mit einem blauen Auge zum Familientreffen. Trotz der Sorgen ihres Bruders Camilo versicherte Leidy, dass alles in Ordnung sei. Dann erstach ihr Partner sie.

Nach Leidys Tod kämpften Camilo und seine Eltern um das Sorgerecht der beiden Töchter. Zusammen mit seiner Freundin übernimmt Camilo nun die Verantwortung für die Mädchen.

Der Femizid hat Spuren in der psychischen Gesundheit der Mädchen hinterlassen. Zunächst wurde ihnen gesagt, ihre Mutter sei einfach nur krank. Doch über die sozialen Medien erfuhren sie schnell die Wahrheit. Gezeichnet von den Ereignissen begann die jüngere Tochter Fremden alle Einzelheiten des Todes ihrer Mutter zu erzählen. Doch die dreimonatige Psychotherapie für die Tochter war neben einer Anwältin die einzige staatliche Unterstützung, die die Familie erhalten hat.

Neben den psychologischen Auswirkungen sind auch die wirtschaftlichen Folgen groß. Vor dem Femizid hat Camilo sein Gehalt als Sportlehrer gerne für seine Hobbys wie Fahrradfahren oder Reisen ausgegeben. Jetzt investiert der 31-Jährige in die Töchter seiner Schwester, in ihre Schulmaterialien und medizinische Versorgung. In der Zukunft möchte er gerne noch einen Master studieren, doch dafür wird er jetzt wohl länger sparen müssen.

Trotz der Herausforderungen sind seine Nichten eine Quelle für Optimismus für Camilo. “Sie sind der Grund, warum meine Eltern und ich weiterkämpfen”, sagt er. Gemeinsam mit seiner Freundin navigiert er die Kindererziehung, vom Umgang pubertären Stimmungsschwankungen bis zur Aufarbeitung der Traumata der Mädchen.

Camilo Beltrán bei der Einreichung der Gesetzesvorlage 2023.
Foto: Camilo Beltrán

Femizide betreffen die ganze Gesellschaft

Leidys Töchter hatten also Glück im Unglück, für sie ist nach dem Tod der Mutter gesorgt. Viele der Kinder, die nach einem Femizid zurückbleiben, sind auf sich allein gestellt. Auch für sie engagiert sich Camilo nun im Kollektiv Waisen durch Femizid in Kolumbien, und das mit Erfolg: Im Austausch mit der Organisation hat die Kongressabgeordnete Carolina Giraldo Botero einen Gesetzesentwurf eingebracht, der staatliche Unterstützung für die Kinder vorsieht. “Bisher hat sich einfach niemand darum Gedanken gemacht, was mit den Kindern passiert, von denen viele noch dazu in Armut oder extremer Armut leben”, führt Giraldo aus. In anderen lateinamerikanischen Staaten wie Argentinien existieren bereits ähnliche Gesetze.  

Zu den wichtigsten Punkten des Gesetzesvorschlags gehören die Einrichtung eines Registers, kostenlose psychologische Unterstützung und die Bereitstellung von Ressourcen, um den Bildungsweg der Kinder fortzusetzen. Die Psychologin Lorena Santana, die mit Waisenkindern von Femiziden arbeitet, erklärt: „Femizid betrifft die gesamte Gemeinschaft. Stellen Sie sich ein Kind vor, das durch einen Femizid zur Waise wird – es ist normalerweise doppelt betroffen: eine Mutter, die stirbt, und ein Vater, der der Täter ist und im Gefängnis sitzt. Die Kinder sind emotional belastet, leiden unter Depressionen, Ängsten und zeigen oft aggressives Verhalten.“

Die Politik reagiert langsam und verhalten

Der Gesetzesentwurf umfasst außerdem eine einmalige finanzielle Unterstützung für die Beerdigung und monatliche Stipendien für die Minderjährigen. Eine feste Finanzierungsquelle muss noch gefunden werden – und durch verzögerte Abstimmungen ist es unklar, ob das Gesetz noch verabschiedet wird. Denn das Parlament müsste das Gesetz bis Juni 2025 noch zweimal diskutieren, sonst muss der Entwurf ganz neu eingebracht werden. „Wir bitten von ganzem Herzen darum, dass bald darüber diskutiert wird, damit all die geleistete Arbeit nicht umsonst war“, sagt die Politikerin Giraldo.

Auch für Leidys Bruder Camilo wäre das ein Rückschlag. Zwar können seine Nichten nicht mehr von dem Gesetz profitieren, aber es wäre gesellschaftlich ein großer Fortschritt, denn es kann jeden treffen. Er erinnert sich daran, wie er selbst als junger Student an der Universidad Pedagógica Nacional gegen Femizide demonstriert hat: „Aber ich hätte nie gedacht, dass ich es einmal so nah erleben würde“, sagt er.

Alle Fotos des Protests gegen Femizide: Tony Kirby

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