Schluss mit Narrenfreiheit
In der Frage, ob Eltern darüber entscheiden dürfen, ihren Kindern ohne medizinische Notwendigkeit ein Körperteil amputieren zu lassen, gab das Landgericht Köln am 07.05.2012 die einzig richtige Antwort darauf: nein. Weder das Recht auf religiöse Erziehung noch die Religionsfreiheit der Eltern rechtfertigen einen solch irreversiblen und folgenschweren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Kindes. Die […]
In der Frage, ob Eltern darüber entscheiden dürfen, ihren Kindern ohne medizinische Notwendigkeit ein Körperteil amputieren zu lassen, gab das Landgericht Köln am 07.05.2012 die einzig richtige Antwort darauf: nein. Weder das Recht auf religiöse Erziehung noch die Religionsfreiheit der Eltern rechtfertigen einen solch irreversiblen und folgenschweren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Kindes.
Die Sache ist klar und leuchtet wohl jedem ein, der sich für Kinderrechte einsetzt. Das Urteil aus Köln erschließt sich auch jedem, der den zweiten Artikel unseres Grundgesetzes kennt. Es ist jedem klar, der verstanden hat, dass die Religionsfreiheit der Eltern dort ihre Grenzen hat, wo die Freiheit der Kinder beginnt, ihre Religion selbst zu wählen und sie zu keiner religiösen Überzeugung gezwungen werden dürfen. Auch wer die von Deutschland unterzeichnete UN-Kinderrechtskonvention kennt, sollte mit dem Urteil kein Problem haben. Hier wird nämlich nicht nur festgelegt, dass Kinder vor „jeder Form geistiger und körperlicher Gewaltanwendung, Schadenzufügung oder Misshandlung“ geschützt werden (19,1), dieses Übereinkommen sieht sogar explizit vor, „überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.“ (24,3).
So weit, so fair.
Doch Religion wäre nicht Religion, wenn zur Verteidigung ihrer Bräuche nicht das letzte noch so unfaire, unsachliche und undurchdachte Argument ins Feld geführt würde. Wie so oft, wenn Religion und Menschenrechte aufeinanderprallen, kommt es also auch in der Debatte um die Vorhautamputation zum gesellschaftlichen Totalschaden: konservativ-religiöse Verbände verhöhnen die Opfer des Holocaust, indem sie das wegweisende Urteil aus Köln als den „schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust“ bezeichnen. Sie unterstellen den Befürwortern von Kinderrechten Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Sie fabulieren gar, jüdisches Leben sei so in Deutschland nicht mehr möglich. Sie verharmlosen die meist ohne Betäubung durchgeführte Operation und leugnen die enormen Schmerzen, die Säuglinge und Kinder dabei zwangsweise durchleben. In Abwesenheit jeglicher medizinischer Kenntnis degradieren sie die Penisvorhaut zu einem funktionslosen Hautfetzen und sprechen Säuglingen die Fähigkeit der Schmerzempfindung ab. Sie vermengen pseudo-wissenschaftliche Argumente mit den Anweisungen, die ihre Gottesvorstellung vor diversen Jahrtausenden aufgestellt haben soll. Sie lassen sich sogar zu der grotesken Aussage hinreißen, durch das Verbot unnötiger Operationen an Minderjährigen werde ihre Religionsfreiheit eingeschränkt – obwohl weithin bekannt sein sollte, dass Religionsfreiheit immer nur für die eigene Person gilt. Und wer spielt dieses Spiel mit? Wem fällt auf die teils schwer aggressiven religiösen Reaktionen nichts besseres ein, als die Bundesregierung zur Missachtung mehrerer Artikel des Grundgesetzes aufzufordern? Richtig: vielen der von uns gewählten Volksvertreter.
Mit gekonnter Eleganz lassen sie sich von der seltenen Allianz aus Bischöfen, Imamen und Rabbis zum Kniefall bringen und opfern zulasten der verfassungsrechtlich geschützten Knaben nicht nur einen Teil derer Genitalien, sondern dazu gleich mehrere Menschenrechte. Sie ignorieren damit nicht nur die Haltung ihrer Wählerinnen und Wähler oder den Appell von Kinder- und Jugendärzten, sondern sie messen dem Aufschrei einiger Religionsvertreter mehr Gewicht bei, als der schier überwältigenden juristischen, medizinischen und psychologischen Argumentationslage gegen die Genitalbeschneidung von Kindern.
In dem Antrag, den CDU/CSU, SPD und FDP am 19.07.2012 eingereicht haben, spiegelt sich dieser Kniefall bestens wider, mit dem hier im Eiltempo unsere Verfassung zugunsten religiöser Riten ausgehöhlt werden soll. Zuerst ist dort von einer „medizinisch fachgerechten Beschneidung“ die Rede, die „ohne unnötige Schmerzen“ durchgeführt werden soll. Bereits hier ergeben sich die ersten Konflikte, denn nötige Schmerzen (die impliziert o.g. Formulierung) kann es bei einer unnötigen Operation per Definition nicht geben. Dazu kommt, dass dieser Eingriff sowohl in der jüdischen als auch der muslimischen Tradition zumeist von Geistlichen durchgeführt wird, wobei aus verschiedenen Gründen weitgehend auf eine Betäubung verzichtet wird. Die Folge sind häufig Komplikationen, Traumata und nicht selten auch die schlichte Unzufriedenheit der Betroffenen, die ohne ihre Einwilligung beschnitten wurden und fortan mit einem unvollständigen Penis leben müssen. Wer also „medizinisch fachgerechte Beschneidungen“ fordert, hat wohl das Statement des Rabbis überhört, der am Ende der Diskussion bei Anne Will unmissverständlich formuliert, die Operation dürfe nach jüdischem Glauben gar nicht in Krankenhäusern, sondern müsse in Synagogen oder zuhause durchgeführt werden. Eine fachgerechte Beschneidung scheint also den Vorstellungen einiger Teile religiöser Gemeinschaften sogar zu widersprechen, so dass auch diese Regelung keine Lösung, sondern nur eine Verlagerung des Problems mit sich bringen wird.
„Auch Ärzte sind verunsichert, ob sie strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie künftig Beschneidungen vornehmen“, formulieren die Antragssteller weiter, doch auch dieser Satz könnte von der Realität kaum weiter entfernt sein. Vielmehr hat das Urteil nun endlich Rechtssicherheit für Ärzte geschaffen, die sich mit dem Wunsch von Eltern konfrontiert sahen, eine unnötige Amputation an einem nicht einwilligungsfähigen Patienten vornehmen zu lassen.
„Jüdisches und muslimisches religiöses Leben muss weiterhin in Deutschland möglich sein“ heißt es in dem Antrag danach, der den haltlosen Vorwurf religiöser Vertreter unreflektiert aufnimmt, die Beschneidung von Knaben stelle einen „konstitutives Element“ des Glaubens dar. Liberale Juden und Muslime, die auch ohne Genitalbeschneidung an Minderjährigen religiös sind, sowie alternative Rituale beweisen, dass dieser Vorwurf nichts weiter als ein Versuch ist, die rituelle Beschneidung gegen die konsequente Umsetzung des Grundgesetzes zu schützen. Und selbst wenn einige Vertreter und Anhänger religiöser Kulte die Vorhautamputation bei Säuglingen und Kindern als Pflicht betrachten, werden sie sich daran gewöhnen müssen, dass ihr religiöses Bekenntnis ihnen keine gesetzlichen Ausnahmen verschafft. Gleiches Recht für alle – daran darf keine Schrift etwas ändern, auch wenn sie als noch so heilig gepriesen wird!
Zwar wird im Antrag auch auf die Tatsache verwiesen, dass die Zirkumzision einen „irreversiblen Eingriff in die körperliche Integrität des Kindes“ darstellt, doch das scheint die Verfasser nicht davon abzuhalten, eine Regelung auf den Weg bringen zu wollen, die Juden und Muslime von Teilen unserer Gesetzgebung ausschließt.
Doch dazu wird es so leicht wohl nicht kommen. Die juristischen Schwierigkeiten, ein Gesetz so präzise zu formulieren, dass medizinisch unnötige Genitalbeschneidungen ausschließlich bei Knaben und ausschließlich aus religiösen Gründen gestattet werden, sind außerordentlich. Sollte es nicht gelingen, dies so differenziert zu formulieren, wären die Folgen fatal: der religiös begründeten Misshandlung von Kindern wären Tür und Tor geöffnet.
So bleibt bisher nur zu hoffen, dass die Bundesregierung noch zur Vernunft kommt und den zahlreichen Argumenten gegen die Vorhautamputation bei Minderjährigen Rechnung trägt. Im Sinne der wehrlosen Kinder muss sie deren Recht auf körperliche Unversehrtheit unbedingt schützen – im Notfall eben auch gegen die religiösen Vorstellungen der Eltern. In der Petition eines Zusammenschlusses verschiedener Organisationen (darunter die Deutsche Kinderhilfe, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sowie die Giordano-Bruno-Stiftung) wird sinnvollerweise gefordert, „zunächst für zwei Jahre keine weiteren Schritte zur Legitimation der Beschneidungen von Jungen zu ergreifen“. Dann kann in Ruhe und professionell diskutiert werden, ob den Söhnen jüdischer und muslimischer Eltern der gleiche gesetzliche Schutz zukommen soll, den auch deren Töchter und die Söhne von Eltern anderer Weltanschauungen genießen – denn an diesen Menschen sind Amputationen ohne medizinische Notwendigkeit selbstverständlich verboten.
In einem Land, in dem sich „das Erziehungsideal durchgesetzt [hat], dass die nachfolgende Generation ohne eine unverhältnismäßige Vorbestimmung durch die Elterngeneration frei zu neuen Ufern aufbrechen kann“, wie es Bettina Röhl in ihrem Debattenbeitrag formuliert, sollten alle Kinder vor einer religiösen Brandmarkung geschützt werden. Ausnahmslos.