Flüchtlinge bevorzugt
Die Idee ist so simpel wie genial: Mitbewohner gesucht, aber Flüchtlinge bevorzugt. Was die Gründer der ehrenamtlichen Organisation Flüchtlinge Willkommen in kurzer Zeit auf die Beine gestellt haben, verdient größte Anerkennung.
Manchmal können aus Empörung tolle Ideen entstehen. Im Herbst 2014 saßen Mareike Geiling und Jonas Kakoschke kopfschüttelnd vor der aktuellen Tagespresse in ihrer Berliner Wohnung. Fremdenfeindlichkeit und das Thema Flüchtlinge waren überall in den Medien präsent. Die Ablehnung von Menschen aus Ländern, die von Kriegen und Hungersnöten geplagt werden, löste bei Geiling und Kakoschke blankes Unverständnis aus – und den unbedingten Wunsch, zu helfen.
Da Geiling beruflich für zehn Monate nach Kairo ziehen musste, wurde ein Zimmer in der Wohnung frei. Schnell hatten die beiden beschlossen, das Zimmer für einen Flüchtling zur Verfügung zu stellen. „Wir mussten allerdings noch einen Weg finden, die Miete zu finanzieren, da wir uns das sonst nicht hätten leisten können“, so Geiling.
Alle Erwartungen gesprengt
Eine Rundmail an Familienmitglieder und Freunde sorgte für die finanzielle Absicherung des Vorhabens. Der Bitte, die Idee der freien Unterkunft für einen Flüchtling mit einer Mikrospende zu unterstützen, folgten die meisten der Angeschriebenen mit monatlichen Spenden zwischen drei und 50 Euro. Nach zwei Wochen hatten Geiling und Kakoschke die Miete für ein ganzes Jahr im Voraus gesammelt. Die Bereitschaft zu helfen sprengte alle Erwartungen der Initiatoren.
Im Dezember zog der neue Mitbewohner bei Jonas Kakoschke ein. Der Mann aus Westafrika wurde von seiner ehrenamtlichen Sprachlehrerin, bei der er einen Deutschkurs absolvierte, an die Zimmeranbieter vermittelt. Der 39 Jahre alte Bakary K. (Name geändert) aus Mali, der nach Deutschland gekommen ist, um Arbeit zu finden, hatte vorher auf der Straße gelebt und gelegentlich in der U-Bahn und in einer Caritas-Notunterkunft geschlafen. Er lebte ein Jahr ohne Arbeit, ohne Geld, ohne regelmäßige Mahlzeiten und ohne ein Dach über dem Kopf. Dem Flüchtling blieb oft nichts anderes übrig, als Flaschen zu sammeln. Als sich Kakoschke und Bakary in einem Café kennenlernten, waren sie sich sofort sympathisch. Noch am gleichen Abend übernachtete der Flüchtling zum ersten Mal in dem freien Zimmer.
Schlaflose Nacht und Skepsis
Dabei war Bakary zunächst skeptisch. Eine Unterkunft ohne Gegenleistung? Das klang für ihn absurd. „Andere Flüchtlinge haben ihm davon abgeraten, bei uns einzuziehen“, erzählt Geiling. Sie meinten, dass an der Geschichte etwas faul sein müsse, weil das Zimmer kostenfrei sei. Bakary wälzte sich in der ersten Nacht schlaflos im Bett, weil er fürchtete, Jonas könne ihn jeden Moment an die Polizei verraten. Die Angst, ausgewiesen zu werden, ist bei dem 39-Jährigen wegen seines Übergangsstatus stets präsent.
„Erst nach ein paar Tagen hat er der Sache wirklich getraut“, sagt Geiling. „So ist das wohl auch mit anderen Flüchtlingen, denen er von dem Projekt erzählt: Sie glauben ihm einfach nicht, dass es ein solches Projekt tatsächlich gibt. Mittlerweile fühlt er sich sehr wohl bei uns und wir drei haben uns angefreundet.“
Angst vor Dialog als Hindernis
Bakary ist inzwischen sehr dankbar für die Unterstützung seiner neuen Freunde. Im Interview mit dem Tagesspiegel erzählt er, dass es nicht leicht war, mit den Menschen in Deutschland in Kontakt zu kommen. „Berlin ist eine große Stadt und die Leute haben nicht so viel Zeit. Vielleicht haben sie auch Angst vor Fremden.“
Dabei sei er der festen Überzeugung, dass man miteinander sprechen müsse, um erkennen zu können, ob jemand gute oder schlechte Absichten habe. „Der Dialog ist der Schlüssel zu vielen Dingen“, so der Flüchtling aus Mali. Er hoffe, dass er erst einmal in seiner neuen WG wohnen könne, bis er einen Job und eine eigene Wohnung gefunden hat.
Was im Kleinen funktioniert, müsste doch auch im Großen funktionieren, dachten sich die beiden Initiatoren. „Nachdem wir gemerkt hatten, wie einfach es war, das Geld für die Miete zusammen zu bekommen, waren wir schnell überzeugt, dass es auch anderen Menschen leicht fallen würde, sich zu engagieren“, erzählt Geiling.
Die mit Flüchtlingsarbeit erfahrene Sozialarbeiterin Golde Ebding stieß zum Team – schon war das Netzwerk gegründet. Das Einzelbeispiel von Bakary sollte größer skaliert und deutschlandweit ausprobiert werden. Als Webdesigner ging es Kakoschke leicht von der Hand, eine originelle und professionelle Internetseite zu programmieren. Als der erste Link dazu bei Facebook gepostet wurde, bekam die Aktion ohne andere Werbemaßnahmen über Nacht 1.000 Likes.
Europaweit positive Resonanz
„Dass es ein solches Echo geben würde, hat uns selbst total überrascht“, sagt Geiling, die jetzt die meiste Zeit von Kairo aus für das Projekt Presseanfragen beantwortet und sich um die Unterstützer und um die Internationalisierung der Initiative kümmert. Mittlerweile hat die Initiative fast 9.200 Likes bei Facebook. Der Webauftritt wurde in Windeseile und dank einiger Freunde zügig ins Englische übersetzt. Der deutschen Seite folgte Anfang Januar der Webauftritt für Österreich. Kooperationen mit Ehrenamtlern in der Schweiz und den Niederlanden sind in Planung.
Binnen dreier Wochen boten 190 Vermieter aus 80 Städten in Deutschland ihre Hilfe an. Derzeit gibt es rund 415 Angebote an Wohnraum für Flüchtlinge. Die Anzahl derjenigen, die Hilfe benötigen und Massenunterkünfte gerne zugunsten einer Wohnung mit sozialer Anbindung verlassen würden, ist selbstverständlich um ein Vielfaches größer. Dennoch: Flüchtlinge Willkommen vermittelt fleißig zwischen Anbietern und Suchenden, und das mit großem Erfolg.
Jonas Kakoschke freut sich darüber. Er beschreibt das Projekt als ein politisches Statement. Er findet, dass in Deutschland und in Europa insgesamt eine viel zu geringe Willkommenskultur herrsche. Er selbst habe das im Ausland auf Reisen ganz anders erlebt. „Deutschland ist ein sehr reiches Land und nicht unbeteiligt an den Konflikten, die es derzeit auf der Welt gibt“, so Kakoschke. „Deshalb sollte sich Deutschland aufgerufen fühlen, Leute ganz klar mit offenen Armen zu empfangen, die gerade vertrieben sind und in ihrem Heimatland Probleme haben.“ Es könne nicht sein, dass die Flüchtlinge in Deutschland ankommen und hören: „Nee, wir wollen dich hier eigentlich nicht.“ Mit diesem Bild unserer Gesellschaft kann sich Kakoschke nicht abfinden.
Spenden und Mithilfe erwünscht
Um die Tätigkeit langfristig hauptamtlich auszuführen, fehlt es an Geld. „Ehrenamtlich sind unsere Kapazitäten bald erschöpft“, sagt Geiling. Das Ergebnis der letzten Sitzung zur Personalsituation war erschreckend. „Wir könnten im Grunde zehn Stellen schaffen, weil es so viel zu tun gibt.“ Die Crew sei fast schon damit überfordert, alle eingehenden Bewerber zu sondieren, zu vermitteln und auf alle Anfragen zu antworten. „Man kann sich bei uns als Pate registrieren und nach Absprache bei allen anfallenden Tätigkeiten helfen“, so Geiling.
Es mangele Flüchtlinge Willkommen an Organisationen wie Asylberatungsstellen, Gemeinschaftsunterkünften, sowie Heimen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) in ganz Deutschland, die Interesse und Kapazitäten haben, mit den Initiatoren zusammenzuarbeiten. „Auch Menschen, die bereits in der Flüchtlingshilfe ehrenamtlich tätig sind, würden uns sehr helfen“, bittet Geiling um Unterstützung. Zu viele Anmeldungen könnten im Moment nicht bearbeitet werden, da es nicht genügend Personal gebe und zu wenige Organisationen, die das Projekt kennen.
Das Zusammenleben funktioniert
Das Zusammenleben zwischen WG-Anbietern und Flüchtlingen scheint derweil gut zu verlaufen. „Wir hören nichts Negatives und gehen daher davon aus, dass das Zusammenleben gut klappt“, berichtet Geiling.
Flüchtlinge Willkommen achtet unter anderem darauf, Sprachbarrieren zwischen den neuen Mitbewohnern zu vermeiden, indem die Organisatoren nur Leute zusammenbringen, die mindestens eine Sprache gemein haben. Was das Team besonders freut, sind Anbieter, die ihre Zimmer auch kostenlos zur Verfügung stellen. Die Idee mit den Mikrospenden hat sich zum Erfolgskonzept entwickelt, da sich sehr viele Menschen auf der Seite gemeldet haben, die eine WG monatlich finanziell unterstützen möchten.
Das Medienecho ist europaweit sehr positiv. Die Berichterstattung ordnet die ehrenamtliche Arbeit und das Projekt als symbolischen Gegenpol zur PEGIDA-Bewegung ein. Das freiwillige Engagement der jungen Berliner tut nicht nur den Flüchtlingen gut, sondern auch dem zuletzt geschundenen Gesellschaftsbild Deutschlands.