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Der Mythos des Auswanderns

Von Jonas Freist-Held / 7. Oktober 2015
Foto: Jonas Freist-Held

Knapp die Hälfte der spanischen Jugend ist ohne Arbeit. Viele von ihnen suchen im Ausland nach einer besseren Zukunft – nicht immer erfüllen sich die Erwartungen. Was wird aus einer Generation, die so mobil und vielsprachig ist wie keine zuvor? Eine Spurensuche.

Mit knapp 92.000 Studierenden ist die Universidad Complutense Madrid die größte Universität in Spanien und die zweitgrößte in Europa. Sie ist die Bildungsstätte zahlreicher namhafter Persönlichkeiten wie Javier Solana, ehemaliger Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU oder Javier Pradera, Mitbegründer der größten spanischen Tageszeitung El País.

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In ihrer mehr als 500-jährigen Geschichte hat die Universität schon bessere Zeiten für ihre Studentinnen und Studenten erlebt. Mit einem Universitätsabschluss erfolgt derzeit nur für wenige Absolvierende der direkte Einstieg in den Beruf. Für viele beginnt ein langer Irrweg auf der Suche nach einer Zukunft nach der Universität.

Mit 48,8 Prozent hat Spanien die höchste Jugendarbeitslosigkeit in Europa noch vor Griechenland (48,3 Prozent). Obwohl sich die wirtschaftliche Lage in den vergangenen beiden Jahren leicht entspannt hat, ist die Situation für junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt schwierig – auch für Alvaro.

Die Universidad Complutense Madrid ist die größte Universität Spaniens. Blick auf die Medizin-Fakultät.
Die Universidad Complutense Madrid ist die größte Universität Spaniens. Blick auf die Medizin-Fakultät.

Viele junge Menschen zieht es ins Ausland

Im kommenden Jahr schließt Alvaro sein Doppelstudium in Journalismus und audiovisueller Kommunikation ab. „Was danach kommt, weiß ich noch nicht“, sagt er. Er hat ein Jahr an der Kingston University in London und ein Jahr an der University of California, Berkeley, in den USA studiert. Normalerweise sind das glänzende Voraussetzungen, um einen Job zu finden. „Ich glaube nicht, dass es für mich sonderlich viele Möglichkeiten in Spanien gibt, so sehr ich es mir wünsche, hier zu bleiben“, sagt er.

Der Weg ins Ausland ist für viele junge Menschen in Spanien eine Option. Eine Studie des Vodafone Instituts für Gesellschafts- und Kommunikationsstudien hat ermittelt, dass sechs aus zehn ernsthaft in Erwägung ziehen, eine berufliche Zukunft im Ausland zu suchen. So wie David: Nach seinem Jurastudium hat es ihn 2014 nach Berlin gezogen, wo er mittlerweile für eine e-Commerce-Firma arbeitet. „Aber viele meiner Freunde, die in Spanien geblieben sind, suchen noch immer einen Job“, berichtet David. Eine Freundin arbeite Vollzeit als Anwältin und verdiene 500 Euro im Monat. Eine andere arbeite als studierte Psychologin in einem Kiosk und räume Regale ein.

Durch die anhaltende Misere sind in den vergangenen Jahren immer mehr Spanierinnen und Spanier ausgewandert. 2009, nach Ausbruch der Krise, lebten 1,4 Millionen Spanier im Ausland. In nur fünf Jahren hat sich die Zahl bis 2013 auf 1,9 Millionen erhöht. Mit 1,2 Millionen lebt der Löwenanteil der spanischen Migranten in Lateinamerika. Aber auch in den europäischen Nachbarländern erhoffen sich viele eine bessere Zukunft – insbesondere in vier Ländern: Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Großbritannien. Unter den Auswanderern befinden sich seit Beginn der Krise immer mehr junge Leute.

Quelle: PERE, 2013
Quelle: PERE, 2013

Deutsch als Fremdsprache wird immer beliebter

Auch im Madrider Goethe-Institut hat sich dieser Trend bemerkbar gemacht. Vor 2010 verzeichnete das Institut jährlich 4.500 Kursteilnehmer an den Standorten in Madrid, San Sebastián und Granada (Barcelona exklusive). Plötzlich explodierte die Teilnehmeranzahl. 2011 meldeten sich 6.600, 2012 gar 7.400 Spanierinnen und Spanier zum Deutschkurs an. „Wir haben hier rund um die Uhr unterrichtet“, erzählt Petra Köppel-Meyer, stellvertretende Leiterin des Goethe-Instituts in Madrid. Bei anderen Deutsch-Sprachschulen in Spanien sei die Entwicklung ähnlich gewesen.

„Aber nicht alle, die Deutsch lernen möchten, haben das Ziel nach Deutschland zu gehen“, betont Köppel-Meyer. Für viele sei der Erwerb einer Fremdsprache eine wichtige Zusatzqualifikation, um auf dem spanischen Arbeitsmarkt einen Job zu finden. „Und da hat insbesondere Deutsch als Sprache aufgeholt.“ Bisher sei Französisch immer die wichtigste Fremdsprache gewesen, jetzt sei Deutsch mindestens ebenbürtig.

Insgesamt nehme die Wichtigkeit von Fremdsprachen in Spanien zu. „Früher dachten die Spanier, Spanisch als Weltsprache reiche aus.“ Da habe eindeutig ein Paradigmenwechsel stattgefunden.

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Prüfungszeit im Goethe-Institut in Madrid. Foto: Jonas Freist-Held

Enttäuscht zurück nach Spanien

Nach 2013 gingen die Sprachkurs-Teilnehmerzahlen wieder zurück. Das hat unterschiedliche Gründe. In den spanischen Medien wird viel über eine Entspannung der wirtschaftlichen Lage in Spanien gesprochen. Das macht den Menschen Hoffnung. In der Tat verzeichnet Spanien im zweiten Jahr in Folge steigende Wachstumszahlen. Die Europäische Kommission prognostiziert für das Jahr 2015 eine Verdopplung des Vorjahreswachstums von 1,4 auf 2,8 Prozent. Damit liegt Spanien unter den Top Fünf in Europa. Für die soziale Situation der Menschen ändere das aber erst einmal gar nichts, sagt Michael Ehrke, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Madrid. „Das sind Statistiken.“

Auch die Beschäftigungslage entspannt sich – wenn auch schleppend: Im Vergleich zum vergangenen Jahr sinkt die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr voraussichtlich von 24,5 auf 22,4 Prozent. Aber damit ist Spanien nach Griechenland nach wie vor das Land mit der höchsten Arbeitslosigkeit in Europa.

Ein weiterer Grund ist die Ernüchterung, mit der viele junge Spanier von ihren Auslandsaufenthalten zurückkehren. Viele junge Leute hätten die Anpassung im Ausland unterschätzt, sagt Johannes von Stritzky, der seit 2014 im Goethe-Institut arbeitet. „Für einen gewissen Zeitraum gab es eine Mystifizierung Deutschlands, insbesondere Berlins“, erzählt er. Viele kämen jetzt mit einer gewissen Frustration zurück. Nicht alle haben so viel Glück und Durchhaltevermögen wie Carlos oder Silvia. Auch in Berlin ist der Arbeitsmarkt umkämpft. Regionen auf dem Land, zum Beispiel in Sachsen oder Baden-Württemberg, wo viele Fachkräfte gesucht würden, seien für viele Spanier nicht die erste Wahl. „Der Mythos Deutschland verpufft so langsam.“

Quelle: Statistisches Bundesamt, 2015
Quelle: Statistisches Bundesamt, 2015

Diese Erfahrung hätten auch viele seiner Freunde gemacht, erzählt Guillermo, der das Glück hatte, an einer Sprachschule in Madrid einen Job zu finden. „Ausgebildete Ingenieure arbeiten dann plötzlich in Deutschland als Barkeeper.“ Das erfülle nicht die Erwartungen, mit der viele Menschen auswanderten. Auch David erzählt von spanischen Freunden, die enttäuscht zurück nach Spanien gekehrt seien.

„Diese Negativerfahrungen sprechen sich rum“, sagt Köppel-Meyer. Das schrecke viele davon ab, den Schritt ins Ausland zu wagen. Schlussendlich spiele aber auch der finanzielle Aspekt eine wichtige Rolle, glaubt sie. Die finanzielle Lage vieler Familien hat sich trotz des langsamen Aufschwungs nicht verbessert. Ein Sprachkurs im Goethe-Institut kostet pro Semester zwischen 400 bis 480 Euro. Da zum Semester 2012/2013 auch die Studiengebühren an spanischen Universitäten stark angestiegen sind, sei ein Sprachkurs für viele schlichtweg zu teuer.

Ein europäischer Arbeitsmarkt als Ziel

Um mehr Menschen aus Südeuropa eine Perspektive zu ermöglichen, fördert die EU seit 2013 das Programm MobiPro-EU. Das Programm wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales ins Leben gerufen, um dem Fachkräftemangel auf dem deutschen Arbeitsmarkt entgegenzuwirken. Es bietet vielen arbeitslosen Jugendlichen aus Südeuropa eine Eingliederung in den deutschen Arbeitsmarkt und vermittelt eine vollständig subventionierte Berufsausbildung sowie Sprachförderung in Deutschland. Das Programm erfreue sich großer Beliebtheit in Spanien, berichtet Köppel-Meyer. Im Goethe-Institut gäbe es jährlich etwa 400 Kandidaten, die sich mit Sprachkursen auf die Zeit in Deutschland vorbereiteten.

Auch die Europäische Kommission fördert mit dem Portal EURES die berufliche Mobilität in Europa. Europaweit gibt es derzeit zwei bis drei Millionen offene Stellen. Die zwischenstaatliche Mobilität betrug 2014 aber gerade einmal 0,3 Prozent. Nur drei Prozent der EU-Bürger leben derzeit in einem anderen EU-Staat. Aber es komme Bewegung in die Sache. „Die Krise hat viele Menschen gezwungen, sich zu bewegen“, sagt Köppel-Meyer.

Im Vergleich zu den 1960er und 1970er Jahren hat sich die Arbeitsmigration in Europa stark gewandelt. Viele spanische Gastarbeiter, die es damals ins Ausland zog, sind dort geblieben und haben ihre Familien nachgeholt. Heute ist die Mobilität oftmals temporärer Natur. „Für die junge Generation ist es nicht mehr abwegig, etwa für ein paar Jahre aus Sevilla nach Freiburg zu ziehen“, sagt Köppel-Meyer. Die gemachten Erfahrungen und insbesondere der Austausch mit anderen Europäern lasse die Menschen in der EU näher zusammenrücken. Ein europäischer Arbeitsmarkt, in dem Mobilität zur Normalität würde, wäre das Ideal. „Darauf müssen wir hinarbeiten.“

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