Achtsame Faulenzer
Gesundheit bedeutet psychisches, physisches und soziales Wohlbefinden. Achtsamkeit kann helfen, diesen Zustand zu erreichen, wäre das Konzept mittlerweile nicht der Logik von Selbstoptimierung und Produktivitätssteuerung verfallen.
Woran erkennt man ein neues Kalenderjahr? Vor allem an den vielen guten Wünschen und Vorsätzen, mit denen es begrüßt wird. Glück und Gesundheit stehen ganz oben auf der Liste. Auch Sport gewinnt wieder an Bedeutung. Gesundheit allein ergibt sich aber nicht nur aus der körperlichen Verfassung. Die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen (WHO) definiert Gesundheit als einen „Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur (als) das Freisein von Krankheit und Gebrechen“.
Trotz vieler Debatten darum: In den letzten Jahrzehnten ist in westlichen Gesellschaften das soziale und psychische Wohlbefinden aus dem Blick geraten. Auf die Frage „Wie geht’s dir so?“ folgt auf ein tiefes Luftholen immer öfter ein Augenrollen und ein „Stressig halt, aber sonst ganz gut“.
Work hard – Play hard?
Aus medizinischer Sicht ist diese Antwort alles andere als „ganz gut“. Mr. Stress nistet sich hinterrücks in unser modernes Leben ein und sitzt uns dann konsequent im Nacken. Je mehr wir uns organisieren und den Tag durchtackten, desto breiter macht er sich und tyrannisiert die, die sich ihm nicht entziehen können. Im Dienstleistungssektor trieb er Menschen jahrelang mit der Devise „work hard – play hard“ in den Wahnsinn. Statt Kreativität und Lebensfreude beschert er vielen Leere, Einsamkeit und Lustlosigkeit. Auf Dauer sind Depression, Burn-out, Borderline-Störungen und Schmerzerkrankungen sein Werk.
Stressige Zeiten vergehen zwar wieder. Wer sich aber allein darauf verlässt, riskiert im Zweifel nicht nur seine Gesundheit. Stress kann den Menschen gar das Leben kosten und spätestens hier zeigt sich die hässliche Fratze des auf Produktivität ausgerichteten Arbeitsmarktes und einer Gesellschaft, in der heute stetige Selbstoptimierung zum Muss erklärt wird. So bezahlte 2017 Medienberichten zufolge ein erst 23-jähriger Bauarbeiter seine 200 Überstunden im Monat mit dem Leben. 2013 starben eine japanische Journalistin sowie ein deutscher Praktikant nachweislich an den Folgen von Überarbeitung. Herzversagen und epileptische Anfälle waren die körperlichen Symptome, die Spitzen des Eisberges einer modernen Leistungsgesellschaft, in der Sozialpolitik immer mehr in den Hintergrund rückt.
Achtsamkeit als stiller Aufschrei
Achtsamkeit macht den Einklang von Körper und Geist zur Methode. Der amerikanische Neurobiologe Jon Kabat-Zinn entwickelte bereits in den 1970er Jahren ein Programm für Achtsamkeitsmeditation, um bei der Stressbewältigung zu helfen. Der erneute Boom dieses Konzepts lässt sich als ein Aufbegehren von Individuen gegen die Zumutungen unserer Zeit deuten.
Nicht wenige wollen sich damit präventiv schützen. Sie lernen Achtsamkeit als eine Form der Aufmerksamkeitslenkung kennen. Einem Geschehen oder Gefühl bewusst begegnen, den augenblicklichen Moment wahrnehmen. Reduktion auf das Wesentliche also. Das hört sich einfacher an, als es in der Praxis ist. Unruhe und Zerstreuung sind dank Smartphone-basierter Dauererreichbarkeit nicht nur für Millennials ständige Begleiter. Wer aber schon einmal Achtsamkeitsübungen gemacht hat, der spürt die positiven Wirkungen von kognitiver Ruhe auf den ganzen Körper. Die Konzentration auf sich selbst und die eigene direkte Umgebung kann zu mehr Zufriedenheit führen. Und Zufriedenheit erleichtert eine gesündere Daseinsform.
Gesunde Mitarbeiter für leistungsstarke Unternehmen
Was heute vielerorts als Trend daherkommt, war anfangs als „esoterischer Kram“ verpönt. Erst später wiesen immer mehr wissenschaftliche Untersuchungen die positive Wirkung nach. Mittlerweile gibt es jedoch geradezu einen Achtsamkeits-Hype: Yoga Studios, zahlreiche Kurse, die Kabat-Zinns Verfahren praktizieren, und auch Magazine wie Slow oder Hygge sind unmittelbar sichtbare Belege dafür.
Ein fahler Beigeschmack angesichts dieser Masse an Angeboten bleibt. Sich fast sklavisch auf körperliche Vorgänge und geistige Aktivitäten zu fokussieren kann man kaum anders erklären, als dass das Konzept der Achtsamkeit längst der Verwertungslogik zugeschrieben wurde. Das zeigt sich am Umgang vieler Unternehmen mit ihren Mitarbeitern. Jährliche Team-Retreats gehören zum einstellungsbewussten Inventar vieler Firmen. Achtsamkeit wird zur Stärkung von Führungskompetenz oder als Anti-Burnout-Strategie genutzt und soll die Kreativität steigern – alles zum unternehmerischen Vorteil.
Für eine Rückkehr zum Faulenzen
Wirklich gesund ist, was echte Zufriedenheit schafft. Ein soziales Netzwerk, das uns unterstützt, zuhört und in dem wir anderen helfen können ist für die eigene Gesundheit extrem förderlich. Und dann wäre da noch das ausgiebige und kostenlose Faulenzen. Nicht nur längeres Liegenbleiben am Wochenende, manchmal kann gar Schuleschwänzen oder „Krankmachen“ den eigenen Reservespeicher wieder auffüllen. Ja, das ist gesellschaftlich verpönt, tut uns viel geforderten Leistungsträgern in Maßen aber gut.
Wie wäre es also statt kostspieliger Wellness-Aktivitäten mal mit Innehalten? Stillstehen. Nichtstun. Wenn sich wieder die Töpfe in der Küche stapeln, wir aber lieber die Formation der Staubflocken auf dem Boden betrachten, der Spinne beim Netzweben zuschauen und Löcher in die Luft starren, dann machen wir nichts anderes, als im Hier und Jetzt zu sein. Den Müßiggang als nicht anerkannte Stressprävention sollten wir uns nicht wegnehmen lassen, vor allen Dingen nicht von den steigenden Erwartungen der Arbeitswelt an uns.