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Aus Protest

Von Sophie Hubbe / 18. September 2014
picture alliance / Deniz Calagan/dpa | Deniz Calagan

Ob Bildungsstreik oder Anti-Atom-Kundgebung – fast jeder war schon einmal auf einer Demonstration. Dabei muss Protest nicht immer laut sein. Heutzutage gibt es viele Möglichkeiten, seinem Unmut Luft zu machen, sie werden nur zu wenig genutzt. Ein Einblick in die deutsche Protestkultur. Wie es um die Protestkultur in Deutschland steht, weiß niemand so richtig. Forschungsarbeiten […]

Ob Bildungsstreik oder Anti-Atom-Kundgebung – fast jeder war schon einmal auf einer Demonstration. Dabei muss Protest nicht immer laut sein. Heutzutage gibt es viele Möglichkeiten, seinem Unmut Luft zu machen, sie werden nur zu wenig genutzt. Ein Einblick in die deutsche Protestkultur.

Wie es um die Protestkultur in Deutschland steht, weiß niemand so richtig. Forschungsarbeiten dazu gibt es kaum. „Angesichts der Tatsache, dass Proteste eine zentrale Form des politischen Ausdrucks sind, die große politische und gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen können, ist das schon erstaunlich“, sagt Simon Teune, Post-Doc-Stipendiat am Institut für Protest- und Bewegungsforschung der Technischen Universität Berlin.

Simon Teune wünscht sich einen größeren öffentlichen Dialog über die Bedeutung von Protesten und sozialen Bewegungen. (Foto: David Ausserhofer)
Simon Teune wünscht sich einen größeren öffentlichen Dialog über die Bedeutung von Protesten und sozialen Bewegungen.
(Foto: David Ausserhofer)

René Hempel, 35, aus Magdeburg, demonstriert sehr oft und engagiert sich politisch, meint aber, dass er fast alleine dasteht. „Es gibt keine ausgeprägte Protestkultur in Deutschland. Es ist sehr schwierig, Leute zu motivieren, sich außerhalb der Parlamente gegen die herrschende Politik zu wehren.“

Die Ignoranz der politischen Verantwortlichen sei ein Grund dafür, dass viele nicht aktiv werden, meint Hempel. „Die Leute denken, ihr Engagement sei vergeblich.“ Die letzte Demonstration, die Hempel selbst besucht hat, war die Christopher Street Day Parade für die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Hempel glaubt, dass in Deutschland auch wenige protestieren, weil sie sich von aktuellen Krisen nicht unmittelbar betroffen fühlen. „Selbst auf dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise spürten viele Deutsche keinerlei Auswirkungen auf ihr bisheriges Leben, sodass im Gegensatz zu Madrid oder Athen nicht Hunderttausende auf die Straße gingen.

Mittelklasse-Phänomen

Viele Proteste werden übersehen: Proteste gelten oft als aktive Form des Aufbegehrens, vor allem in Form von Straßenumzügen. Dabei haben Proteste ganz unterschiedliche Erscheinungsformen. Protest ist auch die Bürgerinitiative gegen Tierversuche, die Onlinepetition gegen Zensur und manchmal auch Graffiti auf Wänden.

„In Deutschland wird mehr demonstriert, als viele denken“, meint Protestforscher Teune. „Die Zahl der Proteste sowie die Zahl der Menschen, die sich bei Protesten engagieren, sind über die Jahre gewachsen und halten sich trotz Schwankungen auf einem vergleichsweise hohen Niveau.“

Dabei ist Protest in Deutschland laut Teune ein ausgeprägtes Mittelklasse-Phänomen. „Es gehen vor allem diejenigen auf die Straße, die besser ausgebildet sind und besser verdienen.“ Entsprechend seien die Protestthemen in Deutschland auch eher „Mittelklasse-Themen“: Ökologie und Atomkraft spielen eine große Rolle. Seit den 1990er Jahren sind auch die Themen Migration und Flucht in der Protestkultur zentral.

Laut Teune gibt es regionale Unterschiede beim Demonstrieren. „Bis zum Beginn der 2000er Jahre haben soziale Themen wie Arbeit und Rente vor allem im Osten viele Menschen auf die Straße gebracht, das hing offensichtlich mit dem Strukturwandel zusammen, der mit der Wiedervereinigung einherging.“ Im Osten gibt es auch mehr Bewegungen gegen die rechte Szene – vermutlich, weil diese dort auch stärker ist.

Demonstrant Hempel beobachtet, dass immer mehr lokale Problemstellungen thematisiert werden. „Bauprojekte wie Stuttgart 21 werden zu Projektionsflächen des Protests gegen Steuerverschwendung und fehlende Bürgerbeteiligung.“ Teune bestätigt: „Es sind nicht immer die offensichtlichen Themen, welche die Bürger auf die Straße bringen. Oft sind die Proteste sehr kleinteilig und nur lokal oder regional sichtbar.“

Protest 2.0

Außerdem verändern sich die Organisationsstrukturen der Proteste. „Die meisten Proteste gehen auf dauerhaft bestehende Organisationen und Bündnisse zurück“, sagt Teune. „Diese werden auch in Zukunft zu Protesten mobilisieren. Aber soziale Netzwerke im Internet machen es leichter, Proteste auch ohne vorher bestehende Netzwerke ins Leben zu rufen.“ Der Protest würde so stärker individualisiert, weniger durch Kollektivakteure organisiert und gleichzeitig professionalisiert.

Ein Beispiel ist die Organisation Campact. Unter dem Motto „Demokratie in Aktion“ organisiert Campact Kampagnen, bei denen sich Menschen über das Internet oder direkt an gesellschaftlichen Debatten beteiligen können. Durch wechselnde Bündnispartner bei Onlinepetitionen und Aktionen vor Ort kann Campact zielgenaue Kampagnen durchführen, die professionell in die Aufmerksamkeitszyklen von Medien und Politik eingepasst werden.

Dennoch könnte die deutsche Protestkultur noch besser werden. Hempel ist von der französischen Protestgesellschaft fasziniert. „Demonstrierende Massen schaffen es, als Korrektiv gegen Parlamentsentscheidungen direkt in die Politik einzugreifen“, sagt Hempel. Das wünscht er sich auch für Deutschland.

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