Das Privileg der Ignoranz
Wir urteilen jeden Tag, vor allem über unsere Mitmenschen. Einzusehen, dass das uns selbst schadet, würde dem sozialen Klima guttun. Für den Perspektivwechsel hilft manchmal der Blick in die Ferne.
Die ukrainische Hauptstadt Kyjiw ist in gleißendes Sonnenlicht gehüllt. Bei 28 Grad im Schatten treffen sich Einheimische in den zahlreichen Parks der Metropole, verabreden sich zum Essen und sitzen in Cafés. Die vorgezogenen Sommertage bergen auch Mitte 2023 den trügerischen Anschein der Normalität.
In Wirklichkeit tobt der russische Angriffskrieg im Land seit mehr als 14 Monaten. Im Alltag bekommt man das nur an ganz bestimmten Punkten mit. Wenn man an einer Panzersperre vorbeigeht, zum Beispiel. Oder wenn man eine überlebensgroße Werbetafel erblickt, die die „Helden von Asowstal“ anpreist.
Am auffälligsten wird die Alltäglichkeit des Krieges jedoch, wenn es wieder Bombenalarm gibt – und selten war dieser seit Kriegsbeginn so intensiv wie im vergangenen Monat.
Schlaflose Nächte
Ich war Anfang bis Mitte Mai während eines Journalistenaustauschs in Kyjiw. Erlebt habe ich beides: scheinbare Normalität und die erschütternde Realität der Bombardierungen.
Als Gast ist es möglich, sich konsequent vor den regelmäßigen Raketen- und Drohneneinschlägen zu schützen, die die Stadt meist mitten in der Nacht heimsuchen. Schließlich verfügt jedes bessere Hotel in der Hauptstadt über ein eigenes Warnsystem, um schnell reagieren zu können. Und über einen Luftschutzraum. Dem Großteil der Ukrainer:innen sind solche Annehmlichkeiten nicht vergönnt.
Sie halten sich an die Mindestregel: Zwei Wände sollten es zwischen einem selbst und dem Einschlagsort sein. Fenster und andere Glasoberflächen sollte man meiden. Wenn um vier Uhr morgens die Alarmsirenen tönen, schaffen es die meisten Einwohner deshalb höchstens in den Hausflur oder ins Badezimmer. Tatsächlichen Schutz würden die massiven Stationen des U-Bahn-Netzes bieten, doch nicht jeder kann eine solche zügig erreichen.
Viele bleiben inzwischen einfach im Bett liegen. Denn das Risiko eines Anschlags gehört mittlerweile zum Alltag und bringt so schnell niemanden mehr auf die Füße, scheint es.
Sicherheit als Luxusgut
Als Deutscher tat ich mich anfangs damit schwer, dieses Umgehen mit der anhaltenden Gefahrensituation zu verstehen. Viele meiner Bekannten hier denken bei Kyjiw an eine Stadt, deren Belagerung ähnlich nihilistische Züge annehmen könnte wie im Fall von Syrien, dem Irak oder Afghanistan.
Das dem nicht so ist, ist sicherlich weit mehr Russlands militärischer Inkompetenz als seiner Barmherzigkeit geschuldet. Die aus sicherer Entfernung geprägte, auf keinerlei eigener Erfahrung basierende Vorstellung der totalen Gefahr könnte zur Realität vor Ort deshalb kaum widersprüchlicher sein.
Die in ihrer Heimat verbliebenen Ukrainer:innen leben in einem Land, in dem Schutz ein hohes Privileg und Sicherheit ein allgegenwärtiges Bedürfnis ist. Doch für beides die eigene körperliche und seelische Gesundheit auf’s Spiel setzen kann nicht Teil der Lösung sein, die sich im Überleben manifestiert.
Das Risiko, bei einem russischen Angriff verletzt zu werden, ist statistisch nicht sehr hoch, aber dennoch stets reell. Um es weiter zu senken, ist es oft erforderlich, sich zu unmenschlichen Zeiten aus seinem Tiefschlaf zu begeben, um für mehrere Stunden auf harten Asphalt- oder Betonböden unter der Erde auszuharren. Immer und immer wieder.
Ein einigermaßen normales Leben, in dem man noch Kraft für Beruf, Familie und einen geregelten Tagesablauf hat, ist damit quasi nicht mehr möglich. Während diese Erkenntnis problemlos erlangt werden kann, erscheint vielen Außenstehenden das Bemühen um ein paar Stunden Schlaf trotz Fliegeralarm makaber, ja lebensmüde.
Sie geben sich uneinsichtig. Doch aus ukrainischer Sicht steckt eine knallharte Kosten-Nutzen-Kalkulation dahinter: Getauscht wird ein geringfügig höheres Risiko gegen mehr Kraft, um sein Land und seine Nächsten im Krieg zu unterstützen, um durchzuhalten. Hier wird das eigene Schutzbedürfnis selbst bestimmt. In Sicherheit gelangen durch Schutzräume zählt zur luxuriösen Variante der Kriegsüberdauerung. An Körper und Seele unversehrt bleibt man deswegen noch lange nicht.
Sieh’s mal anders
Egal, ob es nun die „waghalsigen Ukrainer“, die „dicken Amerikaner“ oder die ungehobelten Nachbarn sind: Zuhause im sicheren Deutschland können wir uns leisten, mit nach Belieben verzerrter, teils toxischer Wahrnehmung über andere Menschen zu urteilen.
Dahinter steckt das Phänomen des sogenannten Main Character Syndrome – also die Auffassung, Protagonist der Handlung zu sein, beinahe wie in einem Film oder Videospiel. „Ich an seiner Stelle…“ gilt hier als Handlungsmaxime, die den Perspektivwechsel unmöglich macht. Doch soziokulturelle Unterschiede gehören zu jeder gesellschaftlichen Auseinandersetzung.
Ernährung, zum Beispiel, ist nicht mehr Geschmacks-, sondern Einstellungssache. Dass sich viele armutsbetroffene Menschen (in den USA fast jeder Fünfte) ungesund ernähren, weil sie keinen Zugang zu vollwertigen und oft teuren Lebensmitteln haben, vergisst man in diesem Diskurs schnell. Genauso wie man schnell den nervigen Nachbarn als Unmensch hinstellt, nur weil der einen schlechten Tag hat.
Unliebsames und auch Unverständliches auszublenden, ist ein Privileg, das sich einige wider besseres Wissen herausnehmen: ein Privileg der Ignoranz, weil wir uns als Nichtbetroffene weit genug weg von diesen Schicksalen fühlen. Gleichzeitig birgt ein solches Auftreten eine Last. Denn wir setzen unseren gequälten Blickwinkel mit der Wahrheit gleich, in deren Licht wir die Situation eigentlich betrachten müssen, um uns die Hand zu reichen für mehr Zusammenhalt.