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Dazugehören

Von Melike Berfê Çınar / 13. August 2021
picture alliance / fStop | Peter Baker

Wie wenig wir voneinander wissen. Wissen wollen, wissen können? Die Berlinerin Melike Berfê Çınar bewegen diese Fragen heute mehr denn je.

Neulich bin ich alleine mit meinem Kind zum Hüpfburgenfest gefahren. Die Hüpfburgen befinden sich in einem Berliner Randbezirk, der in meinem Kopf, gerechtfertigt durch traumatische Erlebnisse vor 20 Jahren, stark mit Neonazis verknüpft ist. Ich zog extra ein ganz unauffälliges Shirt an. Dann fiel mir ein, dass wir beide, mein Kind und ich, niemals unsichtbar sind. Weil ich queer aussehe, weil ich irgendwie alternativ rüberkomme. Als wir zustiegen, saß im Bus ein Vater mit zwei halbwüchsigen Kindern. Alle drei trugen “Frei.Wild“-Shirts. Fanbekleidung von einer Rechtsrock-Band. Und die trägst du ja nicht aus Versehen als Familienuniform. Zwei Busstationen lang überlegte ich, ob es vielleicht doch keine gute Idee gewesen war, diesen Ausflug zu machen. Ich fragte mich, ob wir etwas erleben würden, vor dem ich mein Kind gern bewahren würde. Beim Aussteigen mit der “Frei.Wild“-Familie hatte ich ein mulmiges Gefühl im Bauch. Aber dann bogen sie in eine andere Richtung ab und ich konnte von weitem sehen, dass die Besuchenden des Festes mehrheitlich Personen of Color waren. Puh, die Erleichterung war so groß, dass ich den Vater im “Onkelz“-Shirt, der ein bisschen eingeschüchtert vor einer der Hüpfburgen stand, fast witzig fand.

In Deutschland musst du ja immer aufpassen, weil sich jederzeit plötzlich der Nationalsozialismus auftun kann. Und dann passieren Jahrzehnte der Entwürdigung und Entmenschlichung in einem Augenblick und in den Augen der Leute blitzen Vernichtungsfantasien. So wie in der U-Bahn neulich, wo eine Frau ausgerechnet mir zuraunte: „Sowas muss doch heute nicht mehr sein, oder?“ Mit ihren Blicken deutete sie auf eine Mutter, die uns mit zwei Kindern gegenübersaß. Eines der Kinder hatte eine sichtbare Behinderung. „Ich befürchte, ich weiß genau, was Sie damit meinen, und Sie sollten sich schämen dafür!“, war meine Wahlantwort, weil ich der Familie gegenüber jedwede weitere Ausführung dazu ersparen wollte.

Alles, was uns nicht passt, was scheinbar anders ist, „muss ja nicht sein“ und gehört eigentlich am Ende ausgerottet wie Stadttauben: Geflüchtete, die ekelhaft Armen überall, Homos irgendwie auch und natürlich dicke Menschen. Beim Thema dicke und fette Körper finde ich ja speziell perfide, dass gerne vorgeschoben wird: „Wir sorgen uns doch nur, das ist doch gesundheitsschädigend!“ Und wenn das wirklich so wäre, warum, zur Hölle, ist denn das Mittel eurer Wahl Verachtung? Das habe ich nie verstanden. Weil man das eben so macht, oder was? Eher selten hört man: „Ich habe dich zwei Tage nicht erreicht, wie widerlich! Ich habe mich gesorgt, du verschwundener Armleuchter!“ Menschen werden beschämt und abgewertet, weil – ja, warum eigentlich? Weil sie sich lieber mit Diäten beschäftigen sollen als mit der gesellschaftlichen Revolution, unterm Strich. Das ist in meinen Augen die einzige Erklärung. Ich selber habe die erste, mutterindizierte Diät gehalten, da war ich sechs Jahre alt. Das machte man damals einfach, “Brigitte“-Diät. Warum nicht irgendwelche Pillen zu sich nehmen anstatt Mahlzeiten – in der dritten Klasse und das alles bei einem normalgewichtigen Kind. Dass ich mich heute selber fett nennen kann, wenn ich das will, ist, verdammt nochmal, meine Sache! Es gibt mannigfaltige Mechanismen, um Menschen das Gefühl zu geben, sie seien nicht in Ordnung, sie müssten sich schämen, müssten jemand anderes sein. Diese Sanktionierungen gelten insbesondere für weiblich gelesene Körper. Alleine die Vorstellung: pfui deibel! Die bluten und haben Brüste und Vulven und gehören dem Patriarchat. Ich als öffentliche Sauna-Gängerin kann dazu nur sagen, leck mich am Arsch! Da seh ich regelmäßig Herren, deren Körbchengröße an meine mit Sicherheit herankommt und ich hab schon größere Clits gesehen als einen Teil der Penisse, die es dort so zu bestaunen gibt. Meistens lasse ich aber meine Brille lieber gleich in der Umkleide, das generiert weniger Fragen in meinem Kopf. Es minimiert die Vergleichsmöglichkeiten.

Die noch immer weithin übliche Darstellung der Geschlechtsorgane trägt erheblich zu einem Unwohlsein bei. Die Klitoris zum Beispiel ist mit der Zeit geradezu verschwunden: Aus einem großen Schwellorgan wurde in den am weitesten verbreiteten Darstellungen der letzten Jahrzehnte ein kleiner Punkt zwischen zwei Strichen. Nahezu ohne Funktion, außer derjenigen des beinahe verbotenen, kitzeligen Spaßes von Mädchen. Und das passiert nicht zufällig und bleibt auch nicht ohne Folgen. Wenn wir Menschen immer wieder vermitteln, sie dürften keine Lust verspüren oder hätten nicht einmal ein Anrecht darauf, steht zu befürchten, dass die das glauben. Und damit eben auch das Gegenteil: dass sie kein Anrecht darauf hätten, etwas nicht zu wollen. So sagen wir Kindern, sie sollten ihre Jacken an- oder ausziehen, weil uns selber kalt oder warm ist. Wenn wir jungen Leuten wiederholt vermitteln, sie sollten sich nicht nach ihren eigenen Bedürfnissen richten, zum Beispiel wenn sie hungrig sind und ihr Magen knurrt, und das immer wieder, wenn wir kommunizieren, es sei positiv, Hunger zu haben und den eigenen Magen knurren zu hören, dann glauben die das irgendwann. Und das bleibt dann eventuell nicht beim Essen. Sondern gilt in gleichem Maße für andere Signale des eigenen Körpers: Ich möchte nicht berührt werden. Aber ist das richtig? Habe ich mit meinem Gefühl recht? Habe ich überhaupt ein Recht auf mein Gefühl?

Diese Fragen müssen dringend und eindeutig positiv beschieden werden. Weil erst die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen zu kennen ermöglicht, die anderer respektieren zu können. Weil die Freiheit, etwas zu wollen, auch die Freiheit ist, etwas nicht zu müssen. Im selben Maße, indem wir jungen Menschen das Gegenteil vermitteln, vermitteln wir ihnen auch, dass ihre eigenen Grenzen nicht gewahrt werden müssen. Hier kommt Selbstbestimmung ins Spiel und starke Menschen, die nicht nur eigenständige Positionen haben, sondern sie auch vertreten können. Die wissen, wann ihnen kalt ist und wann sie essen möchten und wann und wen sie berühren möchten oder von wem sie berührt werden möchten. Diese Menschen brauchen wir, wenn wir unsere Gesellschaft bunt und offen erhalten möchten. Es ist die Unterschiedlichkeit, die Vielfalt, die uns verbindet, die wir nicht nur am Europatag, sondern ebenso in Schulbüchern, den Medien und mithilfe von Ämtern feiern und schützen sollten. Nicht die Abbilder der Einfalt.

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