Der Nahostkonflikt aus der Ferne — eine nicht heilende Wunde
Konfrontation ist Teil menschlicher Interaktion und eine mögliche Lösung von Konflikten. Doch was, wenn Konfrontation unmöglich ist oder sogar verunmöglicht wird?
Der Gegensatz ist offensichtlich: Dort, im Nahen Osten, kann man sich dem Konflikt nicht entziehen. Die blutige Konfrontation vor Ort beherrscht die Schlagzeilen und ist immerzu Teil von privaten Unterhaltungen. Hier, im Westen, lässt sich der Konflikt leichter ausblenden. Oft verweigert man sich der Auseinandersetzung mit der Thematik trotz weitreichender Konsequenzen, die der Konflikt auch auf die Menschen hierzulande hat.
Oktober in Europa bedeutet zunehmende Kälte. Dort, wo wir Israelis und Palästinenser herkommen, ist es im Oktober noch warm. Wenn keine Raketen und Bomben explodieren, gehen die Menschen raus und genießen die Sonne. Sonne und Wärme sind in uns. Sie sind in unserem Blut. Sie definieren uns. Wenn wir nicht dort sind, haben wir keine andere Wahl, als uns an die (soziale) Kälte, zu gewöhnen, um uns anzupassen. Feuer, Impulsivität – was uns ausmacht, lassen wir mehr oder weniger hinter uns.
Doch eine Auseinandersetzung ist unumgänglich. Stellt euch vor, ihr würdet hinter einer Mauer aufwachsen und denken, dass auf der anderen Seite “Andere“ wären, die nichts anderes im Sinn hätten, als euch und alle, die euch wichtig sind, zu töten. Dort, wo wir herkommen, wird uns beigebracht, auf der anderen Seite sei der Feind. Und jetzt stellt euch vor, ihr wohnt plötzlich Seite an Seite mit diesen besagten Anderen, steigt in denselben Zug, esst in denselben Restaurants. Wie würdet ihr euch dabei fühlen?
Der Konflikt lebt noch
In einem Land, das in den letzten Jahrzehnten von Krieg verschont blieb, erscheint diese Vorstellung von Hass gegenüber anderen aufgrund ihrer Herkunft absurd. Ja, es stimmt, es ist absurd. Aber das macht es nicht weniger wahr. Hier, in dieser fremden Umgebung, in der es angeblich ein Leichtes ist, friedlich zusammenzuleben, sind wir zur Toleranz aufgerufen. Manchmal stellen wir Israelis und Palästinenser hier tatsächlich fest, dass wir mit unseren “Feinden“ mehr Gemeinsamkeiten haben als mit den Einheimischen: Wir teilen Gewohnheiten, einen ähnlichen Humor. Dann leben wir nicht nur neben-, sondern miteinander. Wir überwinden unsere Vorurteile. Und auf einmal scheint es, als könnten wir die Geschichte über die Mauer und die Anderen hinter uns lassen und ein Pflaster über die Wunde kleben, die der Nahostkonflikt, der so weit weg scheint, gerissen hat.
Dann passiert etwas dort, wo wir herkommen. Diese “Anderen“ haben den schwelenden Konflikt wieder angeheizt. Es gibt Tod, Zerstörung. Währenddessen ist hier alles beim Alten. Wir leben immer noch. Hier tolerieren wir die Existenz der anderen, während wir uns dort nicht einmal in die Augen schauen würden. Wie auch? Schließlich leben wir dort getrennt durch diese hohe Mauer, die nicht nur in unseren Köpfen besteht.
Wir kennen einander nicht und sind dennoch verfeindet. Einfach weil es das ist, wofür wir „geboren wurden“. Im Nahen Osten ist Konfrontation unumgänglich. Unsere Familien, Freunde, unsere Leute dort leiden zurzeit unter Unvorstellbarem. Wie sollen wir, die hier glücklicherweise “in Frieden“ leben, unter diesen Umständen miteinander auskommen? Was ist, wenn deren Bruder meinem Freund zuhause, in der Heimat, etwas angetan hat? Was ist, wenn es umgekehrt war? Können wir immer noch im selben Zug sitzen und in die gleichen Restaurants gehen? Können wir Mitgefühl zeigen? Verständnis? Vergebung?
Die Leere dazwischen
Wir werden aufgefordert, über unsere Unterschiede hinwegzusehen. Wir versuchen es, immer wieder, weil wir glauben wollen, dass es einen anderen Weg gibt als Hass und Gewalt. Aber es gibt auch Trauer und Wut. Hinter der Mauer und davor. Dort und hier, im kalten Europa. Obwohl wir hier nicht diejenigen sind, die die Waffen in der Hand halten und schießen, sitzt auch unser Schmerz tief.
Es herrscht wieder Krieg. Einer, der unendliche Trauer mit sich bringt, aus der weitere Traumata entstehen, die uns wieder über Generationen hinweg trennen werden. Wir teilen diese Traumata, aber wir teilen sie getrennt voneinander. Wir wissen nicht, wie wir die blutige Wunde dieses Krieges heilen, wie wir mit dem Schmerz umgehen, uns ihm stellen sollen. Die Begegnungen, die wir im Umgang miteinander kennen, sind gewalttätiger (dort) oder vermeidender Natur (hier). Dazwischen gibt es nur Leere.
Aggressionen auf der Straße sind nicht gern gesehen und bringen wenig. Hier ist nur Frieden “erlaubt“. Also verhalten wir Verfeindete uns hier distanziert und isoliert voneinander, bis der Ort, den wir Heimat nennen, irgendwann wieder relativ stabil ist. Bis wieder “Ruhe“ einkehrt. Bis dahin weicht man der Konfrontation aus. Man würde so gerne so vieles sagen und gleichzeitig fehlen einem die Worte. Man beschränkt sich also auf minimale Begegnung. Dabei ist diese “zivilisierte“ Form der Auseinandersetzung nichts weiter als ein verzweifeltes Vortäuschen. Es ist vorübergehend und fragil und basiert auf momentaner Sympathie und vielleicht einem Rest Hoffnung.
Dieses Mal könnte es aber anders sein. Am Rande einer möglichen globalen Katastrophe, wenn der Ort, den wir alle Heimat nennen, buchstäblich in Flammen aufgeht, werden Vortäuschung und Pflaster möglicherweise nicht ausreichen. Die Wunde wird blutiger bleiben als je zuvor und die Konfrontation wird auch hier früher oder später stattfinden müssen. Die offene Frage ist, welche Form diese Konfrontation annehmen wird. Hier im kalten Europa.