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Der Takt der gehörlosen Tänzerin

Von Andrea Lindner / 18. Juni 2015
privat

Kann man tanzen, wenn man die Musik nicht hört? Kassandra Wedel zeigt: Man kann. Tanzen ist für die Gehörlose Lebensqualität.

Kassandra Wedel sitzt, ein rotes Kleid und Turnschuhe tragend, in der Mitte eines großen verspiegelten Tanzsaals auf einem Verstärker. Ihre Augen sind geschlossen, Hände und Füße wippen im Takt der Musik. Langsam bewegt sie ihre Arme, dann den Oberkörper. Schließlich erhebt sie sich ganz. Der Beat wird schneller, ihr Körper zuckt, ihre roten Haare wirbeln durch die Luft. Kassandra lässt sich fallen.

Sie fühlt die Musik. Das muss sie auch, denn die Münchnerin, 30 Jahre alt, ist seit einem Autounfall im Alter von dreieinhalb Jahren gehörlos. „Auch wenn es für viele unvorstellbar ist: Ich kann den Beat fühlen. Durch den Beat habe ich den Rhythmus und kann auf ihn tanzen, selbst wenn ich die Musik nicht höre.“ Kassandra ist Tänzerin, Tanzlehrerin, Choreografin und Schauspielerin. „Ich würde mich generell einfach als Künstlerin bezeichnen, da ich alle Künste liebe“, sagt Kassandra. „Das Tolle ist: Meine Hobbys sind auch meine Arbeit.“

Die Tanzschule ist Kassandras zweites Zuhause. Fast jeden Tag ist sie dort. Oft gibt sie Unterricht, aber manchmal tanzt sie auch einfach für sich allein. Das Tanzen hat sie schon sehr früh für sich entdeckt: Mit drei Jahren, als sie noch hören konnte, begann sie mit Ballett. Später kamen Hip-Hop und andere Stile dazu.

Sprechen, aber nicht hören

Ihre Gehörlosigkeit fiel anfangs nicht auf. „Ich habe damals selber nichts bemerkt. Ich habe weiter normal gesprochen und Leute durch Lippenlesen verstanden.“ Medizinisch wurde die Gehörlosigkeit erst zwei Jahre nach dem Unfall festgestellt, kurz bevor Kassandra in die Schule kam.

Wenn man heute als Hörender mit Kassandra spricht, merkt man nichts von ihrer Gehörlosigkeit. Nur wenn man aufpasst, fällt auf, dass sie ihrem Gegenüber nicht immer in die Augen sieht, sondern ganz genau die Lippen beobachtet.

Nicht viele Gehörlose können mit Hörenden sprechen und so gut Lippenlesen wie Kassandra. Oft verstehen Gehörlose nur dreißig Prozent des Gesagten, den Rest müssen sie sich erschließen. Schwierig wird es für Kassandra nur, wenn ihr Gesprächspartner stark nuschelt, oder wenn sie sich ähnelnde Wörter unterscheiden muss, beispielsweise „aus“ und „Haus“. „Sollte ich etwas mal nicht verstehen, hilft immer noch Stift und Papier oder das Handy“, sagt Kassandra.

Als Einschränkung sieht sie ihre Gehörlosigkeit nicht: „Ich bin es gewohnt und kenne es nicht mehr anders. Aber manchmal wäre ich schon gerne hörend.“ Implantate zum Hören möchte sie trotzdem nicht haben. Ihre Hörgeräte trägt sie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr. „Auch mit Hörgeräten verstehe ich Sprache nicht. Ich höre nur Geräusche und Lärm und muss sowieso Lippen lesen“, erklärt Kassandra. „Den Lärm auf den Straßen brauche ich aber nicht zu hören, den kann man auch sehen. Ich nenne ihn visuellen Lärm.“

Kassandra muss die Musik nicht hören - sie fühlt sie. (Foto: Florian Gobetz / www.graphic-to-go.de)
Kassandra muss die Musik nicht hören – sie fühlt sie. (Foto: Florian Gobetz / www.graphic-to-go.de)

Mit Hörgeraten konnte Kassandra den Rhythmus der Musik nicht richtig hören. „Alles klang dann so verzerrt, wie ein Mischmasch. Ohne Geräte konnte ich plötzlich den Rhythmus selbst fühlen und danach tanzen.“ Nach einiger Zeit, so erzählt sie, konnte sie vieles fühlen, das sie vorher nicht einmal mit dem Hörgerät wahrgenommen habe. Inzwischen lebt sie normalerweise komplett in Stille – nur einen sehr lauten Knall könnte sie wahrnehmen.

Tanzunterricht für Gehörlose

Kassandra tanzt besser als viele ihrer Kolleginnen mit Gehör: Sie ist Hip-Hop-Weltmeisterin, wird oft für Auftritte gebucht und hat eine eigene Tanzgruppe. Die Gruppe besteht aus hörenden, schwerhörigen sowie gehörlosen Tänzern. „Mir ist aufgefallen, dass viele Gehörlose und Schwerhörige nicht tanzen, weil sie in einer normalen Tanzschule gehemmt sind. Deshalb biete ich diese Alternative an.“

Wenn neben dem Tanzunterricht noch Zeit bleibt, startet Kassandra weitere Projekte wie Tanztheaterstücke, Theater in Gebärdensprache und Filme. „Ich mache alles, was an interessanten Anfragen eingeht und was mich reizt. Demnächst spiele ich in einem inklusiven Musical mit“, erzählt das Multitalent. „Ich habe aber auch selbst viele Ideen für Projekte.“

Kassandra setzt sich für die Gleichberechtigung von Hörenden und Gehörlosen ein, da sie sich in der Schule nicht richtig gefördert fühlte und dadurch länger für das Abitur gebraucht hat. „Jeder Mensch ist anders und braucht eine andere Förderung“, sagt sie. „Ich habe eine andere Wahrnehmung, weil ich eine andere Perspektive habe. Ich bin einfach anders, hätte aber gerne die gleichen Möglichkeiten wie Hörende.“

Im Laufe der Zeit sei ihr aufgefallen, dass Vielfalt auch in der Vielfalt nicht immer toleriert oder respektiert werde. „Selbst innerhalb von Minderheiten gibt es Diskriminierung, auch unter Gehörlosen“, sagt Kassandra. Das sei vielen nicht bewusst. „Viele Menschen sind für Vielfalt, aber ihrer Meinung nach soll man doch als Gruppe in eine Schublade passen. Jeder Gehörlose ist aber anders und individuell, man kann sie nicht alle in eine Schublade stecken.“

Jeden Tag wachsen

Für Kassandra ist Vielfalt und Andersartigkeit „ganz normal“, schließlich sei sie damit aufgewachsen. Sie schwärmt von ihrer Kindheit, im Rahmen derer sie geliebt und frei aufwachsen konnte. Obwohl es in ihrem Heimatdorf keine anderen Gehörlosen gab, hatte Kassandra nie Probleme mit Ausgrenzung oder Diskriminierung.

Lebensqualität bedeutet für Kassandra, dass sie sich in ihrer Haut wohlfühlen und das machen kann, was sie gerne tut. „Es gibt wichtigere Dinge im Leben als das zu machen, was die Gesellschaft verlangt. Wichtig ist, dass man sich selbst nicht verliert.“ Leben habe für sie Qualität, wenn sie jeden Tag wachse. Das macht Kassandra auch ohne Hörsinn.

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