Der Thomas-Mann-Mann
Dirk Heißerer ist begeisterter Thomas-Mann-Forscher und führt seit 36 Jahren Kulturfreunde zu den Schauplätzen der Weltliteratur. Ein Leben auf Spuren eines toten Literaten.
„Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem Frühlingsnachmittag…“ (Der Tod in Venedig. Erstes Kapitel.)
Dirk Heißerer ist begeistert: „Die ersten fünf Worte alleine – da steckt so viel drin! Gustav – eine Würdigung des damals gerade verstorbenen Gustav Mahler, der Inbegriff des prominenten Künstlers. Aschenbach verweist vermutlich auf den Maler Andreas Aschenbach, der mit 95 Jahren furchtbar alt geworden ist. Der Adelstitel – das ist meine große Entdeckung! – deutet auf Paul von Heyse hin, 1910 mit 80 Jahren nobilitiert und Nobelpreisträger – höher geht’s nicht!“
Die Gruppe lauscht neugierig, wer nicht folgen kann, versteckt es gekonnt. Sieben Leute haben sich dem Literaturwissenschaftler angeschlossen, um heute auf Spuren von Thomas Manns Der Tod in Venedig durch München zu spazieren. „Wir werden Thomas Manns Wohn- und Schreiborte aufsuchen und uns einige Schauplätze der Novelle ansehen“, sagt Dirk Heißerer. Er zieht das Buch aus seinem Rucksack und beginnt laut zu lesen, Im Buch steht Gustav Aschenbach am Nordfriedhof. Genau da, wo die Führung beginnt.
„Zufällig fand er den Halteplatz und seine Umgebung von Menschen leer. […] Hinter den Zäunen der Steinmetzereien, wo zum Kauf stehende Kreuze, Gedächtnistafeln und Monumente ein zweites, unbehaustes Gräberfeld bilden, regte sich nichts …“
Heißerer hält kurz inne und deutet zum Steinmetz auf der anderen Straßenseite.
„…und das byzantinische Bauwerk der Aussegnungshalle gegenüber lag schweigend im Abglanz des scheidenden Tages.“
Der 67-Jährige zeigt Fotos: Die Aussegnungshalle von 1912, schwarzweiß statt ockergelb. Einige Inschriften sind im Krieg verloren gegangen, die „apokalyptischen Tiere, welche die Freitreppe bewachen“ wurden durch Blumenkübel ersetzt, ansonsten ist die Trauerhalle unverändert.
„Thomas Mann ist für mich präsenter als so mancher lebender Autor.“
Seine Euphorie ist ansteckend
„Ich bin so etwas wie der Stellvertreter Thomas Manns auf Erden in München“, sagt Dirk Heißerer. Hunderte Male hat er das Werk gelesen, Textverweise mit historischen Aufnahmen und Schriften verglichen, die Schreiborte des Autors aufgesucht. „Und dann entdecke ich immer wieder etwas Neues“, freut er sich. Heißerer steht nie still, er tritt vor und zurück, gestikuliert, schaut jeden seiner Zuhörer an. Eifriges Nicken, die Euphorie ist ansteckend.
„Heute hat es mir wieder richtig Spaß gemacht“, sagt der Literaturwissenschaftler später. „Eine Dame wurde ganz wach. Da habe ich gemerkt, sie ist dabei! Das interessiert sie! Solche Kontakte sind das einzige Heilmittel für einen Schreibtischtäter wie mich!“ Heißerer führt schon seit 36 Jahren durch die Kunst- und Literaturgeschichte. Sein Repertoire ist umfangreich: Brecht, Rilke, die Schwabinger Bohème. Begonnen hat alles 1988, als Heißerer Dichterspaziergänge für das Goethe-Institut anbot. Erst durch München, später auch bei den Münchner Seen und am Gardasee. Während der Führung hangelt er sich von Wirkungsort zu Wirkungsort.
Der nächste liegt fußläufig, in der Feilitzschstraße 32 in München-Schwabing: ein typisches Gründerzeit-Haus, fünfstöckig, mit Balkon und Restaurant im Erdgeschoss. Die Sonne brennt, die Jacken sind längst ausgezogen. „In diesem Haus beendete Thomas Mann im Jahr 1900 die Buddenbrooks“, sagt Heißerer. Eine Gedenktafel am Haus erinnert an den prominenten Bewohner. Lange hing die Tafel fälschlicherweise an einem Haus in der Giselastraße. Dann bemerkte der Förderkreis Thomas-Mann-Forum München den Irrtum und lies das Schild am richtigen Haus anbringen. Seit der Gründung 1999 ist Heißerer Vorsitzender des Vereins. Der Förderkreis hat 300 Mitglieder, veranstaltet Lesungen, Musik- und Filmabende an verschiedenen Orten in München, veröffentlicht Forschungsergebnisse und kennzeichnet Gedenkorte in der Stadt. Das Hauptziel war aber ursprünglich, ein Thomas-Mann-Haus in München zu errichten. Heißerer sagt: „Das werden wir wohl nicht schaffen.“
Thomas Mann als Lebensprogramm
Später erklärt er das genauer: „In München herrscht eine unterschwellige Abneigung gegen Thomas Mann. Hier geht es nur um die Kinder.“ Natürlich habe Thomas Mann problematische Gedanken gehabt, zum Beispiel hinsichtlich des Krieges. „Aber damals haben viele so gedacht.“ Der Literaturwissenschaftler distanziert sich deswegen nicht von dem Literaten: „Ich denke nicht in Schablonen. Bei Thomas Mann gibt es kein Absolutum. Er ist ein Dokumentarist seiner Zeit.“ Im Übrigen habe Thomas Mann seine Haltung revidiert und beispielsweise schon 1920 vor dem Zweiten Weltkrieg gewarnt. Oder, ein besonders künstlerisches Mittel: Mann, der in 1914 gegen die Franzosen und ihre „cancanierende Gesittung“ hetzte, entschuldigte sich 1924 literarisch, indem er in Der Zauberberg einen Cancan auflegen lässt.
Der literarische Spaziergang endet im Herzogpark, Thomas-Mann-Allee 10, ehemals Poschingerstraße 1: Hinter dicht belaubten Bäumen verbirgt sich die große, weiße Villa, errichtet nach dem Vorbild des ehemaligen Wohnhauses der Familie. Hier schrieb Thomas Mann unter anderem seinen Roman „Der Zauberberg“. Heißerer erzählt die Geschichte des Hauses: gebaut, bewohnt, enteignet, zerstört, abgerissen. Der Neubau von 2006 gehört einem jungen Familienvater. Das Thomas-Mann-Forum hätte es gerne als Vereinshaus gehabt, nun haben sie es zumindest mit einer Gedenktafel markiert.
„Was ich mache, ist eine unablässige Ortssuche, Spurensuche, Identitätssuche“, sagt Dirk Heißerer. „Was bedeutet das Werk Thomas Manns? Warum wurde er zum Feindbild? All das beschäftigt mich, seit ich mit 20 Jahren zum Studium nach München kam. Es ist mein Lebensprogramm.“