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Fehler gehören dazu

Von Alex Favalli / 28. September 2022
picture alliance / imageBROKER | Siegfried Grassegger

Wie geht man mit eigenen Fehlern um, nachdem man sie als solche akzeptiert? Reue allein kann darauf keine Antwort sein. Die Geschichte dreier junger Männer zeigt: Fehler bilden das „Ich“ genauso wie es unsere positiven Erfahrungen tun.

Jonas, Lukas und Theo (Namen geändert) aus Meran, Südtirol, sind gut befreundet. Dermaßen gut sogar, dass sie vorhaben, noch in diesem Jahr gemeinsam nach Barcelona zu ziehen. Dort wollen sie im Café, Restaurant oder einem Hostel arbeiten. Sie müssten „eine ganze Jugend nachholen“, sagen sie, denn diese hätten sie auf verschiedene Art und Weise „verschwendet“. Sie haben Fehler gemacht, den falschen Leuten vertraut. Die gute Nachricht: Sie sind erst 21 Jahre alt.

Es ist Ende 2015, als die drei sich in der Berufsschule kennenlernen. Sie sind 14 Jahre alt. Die Eltern arbeiten viel, sorgen aber für „unbeschwerte Kindheiten“. Ihre Söhne genießen die relative Freiheit, für die jeder Pubertierende dankbar wäre. Zumal die Mopeds, die sie von ihren Eltern haben, ihren Bewegungsspielraum enorm erweitern. Zu Hause verbringen sie nur wenig Zeit.

„Nicht reden, sondern schlagen!“

Jonas, blonde, kurze Haare, liebt Fußball. Jener Geruch von Bier und Beton und der rauchige Geschmack von Bratwürsten sind Teil seiner Kindheit. Seit er fünf ist, nimmt ihn sein Vater mit ins Stadion. Jonas fasziniert der Fanblock der Nordkurve. Seit sein Vater an Spieltagen häufig arbeitet, geht er allein ins Stadion. Einmal beschließt er, dem Spiel aus der Kurve beizuwohnen. Die Mannschaft gewinnt und das Stadion bebt. Bier fliegt durch die Luft, blau-weißer Bengalo-Rauch schwebt himmelwärts und die Hooligans, ihre Gesichter vom Schal vermummt, grölen mit gehobenen Armen Fanlieder.

Nach zwei, drei Spielen wird er von den älteren Fans zum „Vortrinken“ eingeladen. Sein Alkoholkonsum hält sich in Grenzen. Es sind die Gespräche, die ihn fesseln: Man redet von „Glatzen klatschen“, „Antifa“, „Nicht reden, sondern schlagen!“ Diese Rhetorik ist für den Teenager Neuland.

Ehe das Spiel zu Ende ist, steht er schon mit zwei Dutzend Fans einer ebenso großen Gruppe der auswärtigen Fans gegenüber. Es kommt zur Schlägerei und es war, „als hätten alle Spaß dabei, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen“, erinnert er sich. Er kommt mit Nasenbluten davon. Und ist keineswegs abgeneigt: Er will das Adrenalin jenes „antifaschistischen Kampfes“ erneut in seinen Adern spüren, wie seine Kumpels. Der „Krieg“ unter Ultras wird als Fortführung des Partisanenkampfs im Zweiten Weltkrieg verstanden. Innerhalb weniger Wochen sucht Jonas nach praktisch jedem Spiel Streit. Die Leistung der Herzensmannschaft wird zur Nebensache und die Schlägereien zur Priorität. Blaue Flecken überdeckt er geschickt mit Make-up. Seinen Eltern erzählt er, er sei bei seiner Freundin. Der Freundin sagt er, er wäre nach Spielende bei Kumpels. Niemand kriegt irgendetwas mit, bis er im Herbst 2019 mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus aus seinem Fußballfiebertraum aufwacht.

Wenn Parallelen sich kreuzen

Lukas hilft im Sommer 2015 in der Küche des Restaurants seines Onkels als Tellerwäscher aus. Er versteht sich gut mit Markus, dem Chefkoch. Sie reden während der Arbeit viel miteinander und Markus wird für Lukas rasch zum Vorbild. Eine politische Meinung hat er derzeit noch keine. „Es interessierte mich nicht.“ Doch als sein Chef beginnt, über Ausländer zu lamentieren, darüber redet, wie die Republik kurz vor dem Abgrund stünde und es höchste Zeit wäre, aufzuwachen, ist Lukas davon gefesselt.

Aufgeregt folgt er der Einladung zu einem „gemütlichen Abend unter Freunden“ im Partykeller von Markus. An der Wand hängt eine große Hakenkreuzflagge und aus den Lautsprechern dröhnt Deutschrock der Band Stahlgewitter. Bald treffen sie sich nach der Arbeit mehrmals die Woche, trinken Bier und bestärken sich gegenseitig in ihrem Zorn gegenüber Migranten. Lukas beginnt ein Kampfsporttraining, bestellt im Internet Schlagringe, originale SS-Abzeichen und Springerstiefel.

Trifft Lukas zufällig auf Migranten, pöbelt der mittlerweile große Mann mit der tiefen Stimme sie an. Sie sollten zurück, woher sie kämen, ruft er. Sie hätten in „seinem Land“ nichts verloren. Antworten sie, schlägt er auch mal zu. Als er 2019 erfährt, dass Markus am Wochenende eines der „Antifaschweine“ krankenhausreif geschlagen hat und Jonas am Montag nicht in der Schule ist, bricht er den Kontakt zu Markus ab.

Weniger Freunde, mehr Pulver

Und dann ist da Theo mit seiner Leidenschaft für Techno-Musik. Seinen Geburtstag feiert er mit Kumpels auf einem Rave, irgendwo im Wald. Dort zieht er als Heranwachsender zum ersten Mal Kokain. Er nimmt eine kleine Dosis zu sich, will es nur probieren. „Ich habe nichts gespürt“, sagt er. Die Woche darauf probiert er nochmal. Diesmal fühlt er, dass seine Sinne scharf sind. Zwei Monate später fragt er seinen Kumpel nach der Nummer seines Dealers und kauft ein Gramm. Er zieht sich in sein Zimmer zurück und schnupft den ganzen Stoff an einem Abend.

Seine Freunde trifft er immer seltener. „Wenn man mit Freunden teilt, bleibt einem schlussendlich weniger Pulver übrig.“ Lieber spielt er Videospiele und kokst. Laut der Universität Innsbruck konnten deutliche Drogenrückstände in Südtirols Abwässern 2019 nachgewiesen werden. In Bozen lag der Pro-Kopf-Verbrauch von Kokain am höchsten. Theos eigenes Verlangen ist nicht zu stillen: „Wenn ich etwas hatte, musste ich den Stoff immer aufbrauchen. Egal, wie viel.“ Eines Abends kommt er vom Club nach Hause, setzt sich im Freien hin, hört mit Kopfhörern Musik und konsumiert zwei Gramm. Der damals 17-Jährige muss erbrechen und wird bewusstlos. „Ich dachte, mein Herz würde mir aus der Brust springen. Für mich stand fest, dass ich sterben werde. Und es war mir egal“, sagt er und bricht in Tränen aus. Sein Vater findet ihn am nächsten Morgen schlafend im Garten.

Alle drei sind sich darüber einig, dass sie jeder für sich große Fehler gemacht haben. Keiner von ihnen wird diese Zeit zurückbekommen. Sie bereuen ihre vergangenen Entscheidungen jedoch nur teilweise. „Mit Reue kann ich nichts anfangen“, sagt Jonas. „Es ist wie es ist und wir müssen damit leben.“ „Wir haben die Erfahrungen nun mal gemacht“, sagt Theo und ergänzt: „Ohne sie wären wir nicht die, die wir heute sind“. Vielmehr sind sie dankbar dafür, dass sie mit dieser Vergangenheit abgeschlossen haben und zuversichtlich in die Zukunft blicken können. In der Hoffnung, aus den Fehlern gelernt zu haben.

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