Die Deutschen rüsten auf
Viele Deutsche fühlen sich nicht mehr sicher – Terrorattentate und Ereignisse wie die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht beunruhigen sie. Auf die Polizei allein wollen sie sich nicht mehr verlassen und besorgen sich Pfeffersprays und Kleinwaffen – ein nur vermeintlicher Schutz.
Das Attentat am Berliner Breitscheidplatz, der Amoklauf in München, Anschläge in Ansbach und Würzburg, vermehrte sexuelle Übergriffe – viele Menschen glauben angesichts dieser Geschehnisse nicht mehr daran, dass die Polizei sie schützen kann. Mehr und mehr Deutsche kaufen sich daher eigene Waffen. Sie erwerben tragbare Macht, um sich stärker zu fühlen, um sich vermeintlich unangreifbar zu machen.
Der Informatiker Axel aus Hamburg hat Angst vor „Asylanten“ und Überfällen. „Ich muss mir selbst helfen können, wenn etwas sein sollte“, sagt der 25-Jährige. Deshalb hat er immer eine Schreckschusspistole dabei.
Nadine arbeitet beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und ist seit zwei Monaten immer mit Gas-Pistole unterwegs. Die 28-Jährige meint: „Ich habe Angst vor den Flüchtlingen. Seitdem sie hier leben, steigt die Kriminalität enorm an und die Sicherheit auf den Straßen lässt zu wünschen übrig. Als Frau braucht man bei Dunkelheit nicht mehr auf die Straße.“
Aus irrationaler Angst Waffen kaufen
In einem Waffenladen mitten im Zentrum Münchens ist fast alles ausverkauft, was der Selbstverteidigung im Alltag dient: Pfeffersprays, Elektro-Schocker und Kleinwaffen mit Gas- oder Schreckschuss-Patronen. Eine junge Frau, die leer ausgegangen ist, sagt: „Wenn ich höre, dass Flüchtlingswellen einmarschieren, bekomme ich Angst.“ Nicht nur sprachlich ist dieses Bild falsch.
Nie war die Angst vor Terror in Deutschland so groß wie heute, wie eine Umfrage eines Versicherungsunternehmens zeigt. Im Ranking der Angstmacher liegt Terror noch vor der Furcht vor politischem Extremismus.
In den vergangenen zwei Jahren ist die Anzahl der sogenannten kleinen Waffenscheine stark gestiegen. Der Schein berechtigt zum Führen einer Gas- oder Schreckschusspistole – und auch dazu, sie im Notfall einzusetzen. Während 2015 erst 280.000 Menschen so einen kleinen Waffenschein hatten, waren es 2016 bereits eine halbe Million.
Im Januar 2016, kurz nach den Übergriffen der Silvesternacht in Köln, sind in einigen Gegenden Deutschlands so viele Waffenscheine beantragt worden wie im ganzen Jahr 2015.
Gewalt gegen, nicht durch Geflüchtete
Deutschland rüstet auf, aber tatsächlich gefährlicher ist es in diesem Land nicht geworden. Die Kriminalität hat trotz des Bevölkerungszuwachses nicht überproportional zugelegt.
„Das Problem sind nicht die Flüchtlinge, sondern vor allem osteuropäische Banden, die im großen Stil deutschlandweit Einbrüche verüben“, sagt Peter Schall, Polizeioberrat im Präsidium Oberbayern Nord.
Geflüchtete seien zumeist Opfer, nicht Verursacher von Straftaten. „Die Gewalt gegen Flüchtlinge ist massiv angestiegen“, so Schall. 80 Prozent der Straftaten von Geflüchteten richteten sich außerdem gegen andere Geflüchtete. „Weil sie im Flüchtlingslager eng an eng wohnen, kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen.“
Scheinbarer Schutz
Selbst wenn die Statistiken die Furcht der Waffenscheinbesitzer unterstützen würden: Gaspistolen bieten nur scheinbaren Schutz.
„Viele Menschen fuchteln zu leichtfertig mit ihnen herum – zum Angeben oder im Streit“, sagt Schall. „Das kann dann sehr schnell sehr gefährlich werden, weil auch Gaspistolen aus der Nähe tödlich sein können und die Polizei im Ernstfall wiederum die Schusswaffe einsetzt.“
Nicht selten beherrschten Waffenbesitzer ihr Gerät nicht und verlören es bei einem Angriff an ihren Gegner. „Der Bürger ist mit Waffe eher gefährdet als ohne.“
Eine solche Verteidigungsmaßnahme ähnele dem ABS beim Auto: Sie schütze nicht vor unüberlegtem Handeln. Schall rät deshalb von der Selbstaufrüstung ab und appelliert stattdessen an die Solidarität der Menschen: „Wenn sich die Bürger gegenseitig helfen, können viele Straftaten verhindert werden.“
Der Polizist wünscht sich, dass das Vertrauen in die Polizei wieder steigt. „Wir werden jetzt 16.000 Stellen, die über die vergangenen Jahre abgebaut worden sind, wieder aufstocken“, so Schall. „Ich hoffe, dass dann weniger Menschen das Gefühl haben, eine Waffe zu brauchen.“
Auf Schall und seine Kollegen wartet viel Arbeit, wie das Beispiel von Nadine zeigt. Sie sagt: „Meiner Meinung nach schaut die Polizei zu oft weg – ich kann ihr nicht mehr vertrauen. ‚Die Polizei, dein Freund und Helfer‘, das stimmt schon ewig nicht mehr.“ Ihre Konsequenz: Nur noch mit Waffe aus dem Haus.