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Die neue Form der Beinahe-Arbeitslosigkeit

Von Luan J. Kreutschmann / 10. März 2015
picture alliance / Tobias Hase/dpa | Tobias Hase

Arbeitslosigkeit ist offiziell kein Problem für 25 bis 40-jährige Uni-Absolventen in Deutschland. Doch prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben für den Einzelnen und die Gesellschaft ähnliche Konsequenzen wie Erwerbslosigkeit. Diese Lebensverhältnisse sind aufgrund bislang fehlender Erhebungen schwer zu analysieren.

An Universitäten mit Elite-Prädikat engagiert und durchstudiert, auslandserfahren, praktikumserprobt, lebenslauflückenlos, und die Aussicht, bis auf Weiteres im Käseregal den Käse zu wählen, der 20 Cent billiger ist: Das ist eine häufige Beschreibung von Leben und Perspektive junger Akademiker in Deutschland, die sich durch keine Statistik belegen lässt. Nur 2,5 Prozent aller Personen mit akademischem Abschluss waren 2013 laut der Bundesagentur für Arbeit arbeitslos gemeldet. De facto gibt es unter ihnen also Vollbeschäftigung. Woraus resultiert dann das eingangs skizzierte Lebensgefühl?

Zunächst entsprechen den arbeitslosen 2,5 Prozent immerhin 191.100 Personen, also eine mittlere Großstadt voll arbeitssuchender Akademiker. Außerdem werden Teile der erwerbslosen Uni-Absolventen nicht oder nicht hinreichend genau erfasst. Obdachlos lebende oder von einem gut verdienenden Partner mitversorgte Akademiker dürften dabei immer noch die Seltenheit sein. Aufstocker, Minijobber und Selbstständige hingegen, eine verbreitete und zunehmende Form der Existenzsicherung unter Akademikern, gehen jedoch ebenfalls nicht in die Arbeitslosenstatistik ein.

Auch im Ausland berufstätige Personen mit Uni-Abschluss werden nicht berücksichtigt. Vor allem ist unklar, ob sie freiwillig oder aufgrund nur dort überhaupt vorhandener oder besserer Jobaussichten im Ausland leben. Diese Unzulänglichkeiten sind jedoch ein denkbar klassisches Phänomen statistischer Erfassung. Selbst die Unterschiede zwischen Fachbereichen berücksichtigend, sind sie zusammengenommen keinesfalls hinreichend, den vielfach ausgedrückten beruflichen Pessimismus zu rechtfertigen.

Teufelskreis der vermeintlichen Fehl-Qualifikation

Zur Standardausstattung der Popkultur seit 2000 gehört längst jener medial eindrücklich illustrierte Cocktail aus Geldmangel, Desillusionierung und Abhängigkeit inmitten von Dreimonats-Praktika, -Auslandsaufenthalten und -Zeitverträgen, halbverbindlicher Beziehungsarrangements, dreiviertelunmöglicher Hoffnungen. Die US-amerikanische Serie „Girls“ über eine Gruppe junger Frauen in den Mittzwanzigern, die sich in New York von Mann zu Mann und von Aushilfsjob zu Aushilfsjob hangeln, ist ein vielzitiertes Beispiel dafür.

Mehrere Indizien weisen darauf hin, dass es sich dabei um mehr als ein medial aufgebauschtes Melodram handelt. Schon der Einstieg in den Arbeitsmarkt ist hürdenreich. Jede Ausschreibung, oft selbst die als studentische Hilfskraft neben dem Studium, verlangt Berufserfahrung, am besten in der Branche der vakanten Stelle. Um Berufserfahrung zu sammeln, braucht es jedoch eine Anstellung. Nicht ohne Grund haben nur fünfzig Prozent aller ausgebildeten Geisteswissenschaftler im ersten Jahr nach dem Abschluss einen Job. Wer diesem ersten Dilemma schon nicht entrinnen kann, muss zusätzlich Lebenslauflücken stopfen.

Doch wer Berufserfahrung hat, ist für viele Jobs bereits überqualifiziert. Personaler bezweifeln, dass einen die Stelle angemessen fordern könnte, Unternehmen fürchten, qualifikationsangemessene Löhne zahlen zu müssen. Wiederholt äußern Akademiker über 55, dass ihr Alter Grund für ihre andauernde Erwerbslosigkeit und ihre Erfahrung nichts wert sei. Gleichzeitig berichten Absolventen unter 25, dass ihr Alter Grund für ihre andauernde „Sucharbeitslosigkeit“ sei und nur Erfahrung zähle.

Dass Jobabsagen aus rechtlichen Gründen so gut wie nie eine genaue Begründung enthalten, macht eine sinnvolle Diskussion nahezu unmöglich. Ob dieser Zirkelschluss nur als billige Rechtfertigung scheiternder Bewerbungen Minderqualifizierter herhalten muss, oder ob Personaler mit widersprüchlichen Anforderungen ihre Einstellungsnotwendigkeiten bis zur Einstellung eines Logik-Wunders herausprokrastrinieren, ist damit nicht zu entscheiden.

Eine Generation verwöhnter Vollzeit-Selbstverwirklicher?

Keine Erwerbsbiographie garantiert eine Anstellung, eine unbefristete und tariflich entlohnte schon gar nicht. Dies ist ein statistisch ebenso gut belegter wie ungeheuerlicher Allgemeinplatz. Die sozialen Folgen spielen sich bislang vor allem online ab: Generation Praktikum ist at rage. Diese zunächst schüchterne, etwas verhaltene Wut ist inzwischen zu gelegentlichen Blogposts hochgekocht, die in ziemlich regelmäßigen Tweets mit wechselnden Hashtags hundertfach geteilt, gelesen und mitgefühlt werden. Ab und an schwappt etwas aus dieser brodelnden Blogosphäre in die Mainstream-Medien, wie etwa jüngst in die taz.

Den jungen Absolventen wirft man abwechselnd Angepasstheit und Kompromisslosigkeit vor. Angepasstheit, weil diese prekären Einstellungspraktiken viel mehr Wut und Widerstand rechtfertigen würden, als de facto zu beobachten ist. Kompromisslosigkeit, weil es sich bei den jungen Akademikern vielleicht um eine Generation selbstbezogener Vollzeit-Selbstverwirklicher handelt, die ihren Anspruch auf gutbezahlte Verbindlichkeit längst verwirkt hat, indem sie auf Teilzeitstellen und Work-and-Travel-Auszeiten besteht.

Diejenigen, die aus Angst vor Arbeitslosigkeit von vornherein ein anderes als das nach Interessen und Fähigkeiten optimale Studium oder eine fachfremde Stelle akzeptieren, sind von keiner Statistik erfasst. Und woher die Sicherheit, geschweige denn die Energie und die Argumente nehmen, entgegnen die 25 bis 40-jährigen Akademiker, sich ausgerechnet über dieses und genau dieses Unrecht zu echauffieren, da der Arbeitsmarkt und die politische Lage der Welt komplex und insgesamt eine ungerechte ist, die immer ungerechter wird?

Diese generationelle Zeitgeistdiagnose und die folgende Auseinandersetzung um moralische Definitionsmacht wird in Blogbeiträgen verschiedentlich aufgegriffen. Hat man uns schlicht mehr versprochen, als der Arbeitsmarkt zu halten fähig war? Waren wir naiv, darauf zu bauen, dass nach dem Germanistik- und Sozialwissenschaftsstudium schon irgendein Job käme? Bildet sich die Generation Französisch-im-Kindergarten ein Anrecht auf Selbstverwirklichung ein, das andere Generationen so nie gehabt haben?

Soziale und emotionale Folgen von (Beinahe-)Arbeitslosigkeit

Die klassische Arbeitslosigkeit und ihre Verheerungen haben längst neue, subtilere Formen angenommen als die des ungebildeten Jogginghosen-RTL-Klischees. Die gesundheitlichen, insbesondere psychosozialen Folgen von Erwerbslosigkeit sind gut untersucht. Geringe finanzielle Möglichkeiten am oder unter dem Existenzminimum und die daraus resultierende Einschränkung bei sozialer Teilhabe, dauernde Unsicherheit, vermindertes Selbstwertgefühl und Stigmatisierung führen zu einer gesundheitlichen Mehrbelastung und einer geringeren sozialen Absicherung durch Eigentum oder Ehe.

Erwerbslosigkeit ist, wie die Statistiken belegen, nicht das Problem der heutigen Akademiker in Deutschland. Das Problem ist die von der Erwerbslosigkeit ausgehende Dauer-Bedrohung. Die Noch-nicht-Arbeitslosigkeit befristeter und prekärer Beschäftigungsverhältnisse hat verheerenderweise weniger gut dokumentierte, doch genau dieselben, vielleicht sogar stärkere Symptome als faktische Arbeitslosigkeit

Das erklärt die von jungen, insbesondere geistes- und gesellschaftswissenschaftlich ausgebildeten Absolventen wiederholt und insistierend zum Ausdruck gebrachte Unzufriedenheit mit dem Arbeitsmarkt trotz optimistischer Statistiken.

Die Probleme von Arbeitslosigkeit für den Einzelnen und die Gesellschaft können faktisch gar nicht mehr rein als Probleme von Arbeitslosigkeit verhandelt werden. Damit sind Statistiken zu Stellenzuwachs, Erwerbslosenquote und Jobsuche kaum hilfreich als Analyse-Instrumente. Das macht es ausnehmend schwierig, Missstände jenseits unspezifischer Blogeinträge und Tweets, die sich leicht als irrationale Postpubertäts-Larmoyanz abtun lassen, zu verhandeln.

Ausblick in die Post-Praktikums-Dekade

Wenn irgendwas im Leben unbefristet ist, dann die Aussicht auf Prekarisierung. Eine ganze Generation ist zum Vorturnen im Existenzminimumslimbo geladen. Frei ist, wer wenigstens den Soundtrack dazu wählen kann.

Und doch neigt sich die Ära Praktikum, wie wir sie kannten, dem Ende zu. Mit der Gesetzesänderung zum Mindestlohn, die Anfang 2015 in Kraft trat, sind die Regelungen für Praktika deutlich rigoroser geworden. Die dadurch entstehende und künftig durch die geburtenschwachen 1990er-Jahrgänge noch vergrößerte Lücke bei den billigen Arbeitskräften wird künftig also anderweitig besetzt werden müssen. Dass die Nachfolge-Arrangements hingegen einen Mehrwert an Bezahlung und Verbindlichkeit bieten, ist ungewiss und nicht sehr wahrscheinlich.

Was sich jetzt milde und statistisch noch nicht signifikant abzeichnet, ist die fortschreitende Akademisierung der schon vorhandenen Akademisierung. Der Trend geht zum Mehrfach-Studienabschluss. Wer bereits einen Bachelor und Master hat, kann einen zweiten Master in einem angrenzenden Fachgebiet unkompliziert dransetzen. Die Modularisierung der Studiengänge hat zu einer Diversifikation des Angebots, aber auch der Anforderungen geführt, sodass einen früheren Magister heute fünf spezifische Master ersetzen.

Die beruflichen Qualifikationen werden damit von der Weiter- in die Ausbildungsphase verlagert. Die Anzahl der Jahre eines Lebens, die ein Mensch in Ausbildung verbringt und per definitionem nicht erwerbslos sein kann, erhöht sich. Wo früher ein Ausbildungsabschluss genügte, braucht es heute einen Bachelor. Wo heute ein Master genügt, werden es morgen vielleicht drei sein.

Was positiverweise das Ideal lebenslangen Lernens und regelmäßig aufgefrischter Kompetenzen auf der Höhe der Zeit verkörpert, bedeutet auf der anderen Seite künftige Arbeitslose, die mit einem Bachelor und Master unterqualifiziert sind, und eine Heerschar neben dem Studium prekär beschäftigter Arbeitskräfte.

Die Arbeitslosenquote könnte künftig also weiter sinken, ohne dass sich dadurch der Lebensstandard der Betroffenen erhöhen oder die psychosozialen Belastungen verringern müssten. Die Arbeitslosigkeit der Zukunft könnte Akademisierung heißen.

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