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Die Politik hat in Teilen eklatant versagt!

Von Sagwas-Redaktion / 17. Juli 2012
picture alliance / dpa | Oliver Berg

Im November letzten Jahres wurden die Terrorakte der Zwickauer Terrorzelle bekannt. Häppchenweise kommt seitdem heraus, dass den deutschen Sicherheitsbehörden, allen voran dem Verfassungsschutz auf Landes-, wie auch auf Bundesebene, nicht nur schwerwiegende Fehler unterlaufen sind, sondern dass ihnen die Fahndungsarbeit äußerst schwer fiel – aus welchen Gründen auch immer. Für die Hinterbliebenen muss es eine […]

Im November letzten Jahres wurden die Terrorakte der Zwickauer Terrorzelle bekannt. Häppchenweise kommt seitdem heraus, dass den deutschen Sicherheitsbehörden, allen voran dem Verfassungsschutz auf Landes-, wie auch auf Bundesebene, nicht nur schwerwiegende Fehler unterlaufen sind, sondern dass ihnen die Fahndungsarbeit äußerst schwer fiel – aus welchen Gründen auch immer. Für die Hinterbliebenen muss es eine Qual sein, wie sie zunächst selbst ins Visier der Fahnder gerieten und nun Zeugen gravierender staatlicher Inkompetenz werden.
Sagwas.net unterhielt sich mit Mehmet Daimagüler,  einem Anwalt der Hinterbliebenen des NSU-Terrors. Der Prozess wird wahrscheinlich noch im laufenden Sommer beginnen. Daimagüler sprach mit uns über seinen eigenen Umgang mit der Integrationspolitik, über den Verfassungsschutz und über politisches Versagen.

Herr Daimagüler, Sie sagen über sich, Sie hätten zwanzig Jahre lang die Klappe gehalten und nicht über die Realität gesprochen, um ihre eigene Karriere nicht zu gefährden. Welche Realität meinen Sie?
Ich glaube, dass sich Deutschland insgesamt in den letzten 20 Jahren in vielerlei Hinsicht gut entwickelt hat. Wir haben heute einen schwulen Außenminister. Wir haben einen Bundespräsidenten in wilder Ehe, was für die meisten vollkommen okay ist. Aber ich glaube auch, dass das eben nicht die einzige Entwicklung in Deutschland ist. Ich glaube, dass ein Drittel der Bevölkerung eben mit diesen Veränderungen nicht nur gut klar kommt, sondern sie aktiv unterstützt. Dann glaube ich, dass ein weiteres Drittel der Bevölkerung indifferent ist. Es hat nichts gegen Veränderung, aber unterstützt sie auch nicht aktiv. Und dann gibt es ein letztes Drittel, was eben mit dem Wechsel nicht einverstanden ist, mit den Änderungen nicht zurecht kommt. Das sich aktiv, vehement und lautstark gegen jede Art von Veränderung stellt. Und dieses letzte Drittel kann man nicht mehr in die klassischen Links-Rechts-Kategorien einfassen, sondern es sind klassische Rechtsradikale, aber auch genauso Schreihälse aus der Mitte der Gesellschaft, wie Herr Sarrazin zum Beispiel. Was bedauerlich ist, ist die Tatsache, dass wir in den letzten zehn Jahren diesem letzten Drittel erlaubt haben, die öffentliche Agenda und Stimmung zu bestimmen. Das erste Drittel der Bevölkerung, was eben dieses Land aktiv vorangetrieben hat – auch im Guten verändert hat – war in vielerlei Hinsicht einfach zu eingeschüchtert, um dagegen bestehen zu können. Diese Art von Veränderung habe ich schon registriert. Aber ich glaube nicht, dass ich genug und ausreichend – auch in meiner damaligen Partei, der FDP – dagegen gekämpft habe.

Was meinen Sie, wie dieses Klima entstehen konnte, dass die Deutungshoheit diesem einen von Ihnen beschriebenen Drittel zugekommen ist?
Ich glaube, das war ein Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren. Zum einen glaube ich, dass wir es mit einem eklatanten Versagen der Politik zu tun haben. Das eklatante Versagen war der eigenen Ideologie geschuldet, also der Ideologie, z.B. zu sagen, Deutschland sei kein Einwan­derungsland. Die Nachricht dahinter ist ja, wir haben Einwanderer hier, weil wir sie unbedingt brauchen. Aber es ist eigentlich ein notwendiges Übel, und ein Übel, das vorbei gehen wird und deswegen müsst ihr, die Mehrheits­gesellschaft, euch gar nicht verändern. Ihr müsst euch nicht auf etwas Neues einlassen. Und dann war es in der Politik auch hier und da der Fall, dass Leute – vor allem nach 9/11 – sich nicht mehr getraut haben, sich aktiv für eine plurale Gesellschaft einzusetzen. Und ein Höhepunkt des politischen Versagens, des Niedergangs der Kultur an der Stelle, war auch die Feststellung von Frau Merkel, Multikulti sei gescheitert. Erst einmal, Multikulti kann ebenso wenig scheitern wie das Wetter. Es ist ein Faktum, es ist da. Die einzige Frage, die sich stellt, ist die, wie wir damit umgehen. Man kann wie Frau Merkel sagen, es ist eine unerfreuliche Entwicklung und das wollen wir wegschieben. Oder man kann aktiv damit umgehen und noch mehr. Man kann sagen: Diese Vielfalt, die wir jetzt haben, ist Voraussetzung für wirtschaftliche, politische, soziale, kulturelle Weiterentwicklung unseres Landes. Es ist nicht nur eine Notwendigkeit, sondern es ist etwas, das wir gut finden, was wir fördern wollen, weil es gut ist für unser Land und seine Zukunft.

Lassen Sie uns über den NSU sprechen:
Wenn man sich den Untersuchungsausschuss anschaut – der Prozess, in dem Sie die Opferseite vertreten werden, steht ja noch bevor – da wird einiges ans Tageslicht befördert. Vom Sprachgebrauch „Dönermorde“ oder was beim Verfassungsschutz in Thüringen los war. Was sagt das über unsere Gesellschaft und unseren Umgang mit Menschen, die eigentlich hier groß geworden sind und zur Gesellschaft dazu gehören, aus?

Sie sprechen ja verschiedene Fragen an. Erst mal glaube ich, dass diese Mordserie so nicht stattgefunden hätte, wenn es sich bei den Opfern um ganz normale autochthone Deutsche gehandelt hätte. Ich glaube, dass da die öffentliche Aufmerksamkeit sehr viel stärker gewesen wäre. Ich glaube auch nicht, dass es möglich gewesen wäre, die Opfer in eine bestimmte Ecke zu drängen, sie posthum noch mal zu einer Art Täter abzustempeln. Wenn man sich die Ermittlungs­akten anschaut, es wurde ermittelt gegen andere Türken – Drogenhändler, die türkische Mafia, in Richtung Kurden, PKK, etc., es wurde ermittelt gegen Polen, weil eines der Opfer ein Auto verkaufen wollte und es wohl eine sehr laute Verhandlung über den Preis gab, aus denen Nachbarn geschlossen haben, dass es einen großen Streit gegeben hätte. Deswegen wurde auch gegen Polen ermittelt. Es wurde gegen Sinti und Roma ermittelt. Schließlich fanden die Taten ja in ganz Deutschland statt und wer bewegt sich in ganz Deutschland ständig – das fahrende Volk. Es wurde eigentlich in sehr viele Richtungen ermittelt, aber eben nicht in die naheliegende Richtung, mal vielleicht unter den 70 Mio. autochthonen Deutschen zu schauen, ob es da vielleicht etwas geben könnte. Und das hat natürlich schon einen ziemlichen Schlag in das Vertrauen in die Justiz mit sich gebracht. Deswegen glaube ich, dass die juristische Aufarbeitung, wie auch die politische Aufarbeitung, eine große Chance bietet. Was wir bis jetzt in dieser Richtung gesehen haben, ist eigentlich zu wenig. Da werden mit großem Tamm-Tamm tatsächliche oder mutmaßliche Unterstützer festgenommen und dann wieder auf freien Fuß gesetzt.

Wie bewerten Sie das eigentlich als Anwalt aus Expertenperspektive? Rausgekommen, an die Öffentlichkeit gelangt, ist der Terror im November 2011. Wir haben jetzt Juli 2012 und jetzt erst rollen – politisch gesehen – die ersten Köpfe. Aus welchen Gründen ist da nicht früher Druck gemacht worden?
Das kann ich nicht beurteilen, das weiß ich nicht. Auf politischer Ebene haben wir drei Untersuchungsausschüsse. Ich glaube, insbesondere der Bundestags-Untersuchungsausschuss, mit Sebastian Edathy als Vorsitzenden, ist sehr, sehr engagiert und sehr vehement bei der Sache. Ich glaube auch, dass der Untersuchungsbericht der Schäfer-Kommission in Thüringen dokumentiert, dass da in der Landesregierung der Wille zur Aufklärung besteht. Aber man muss auch sehen, dass von Teilen der Exekutive, von Teilen der Geheimdienste, eben nicht so engagiert mitaufgeklärt wird. Das ist mein Eindruck, um es mal vorsichtig auszudrücken. Ich denke, hier offenbart sich, dass wir ein doppeltes Kontrollproblem haben, was die Geheimdienste angeht. Zum einen glaube ich, dass in vielen Fällen die Behördenleitungen nicht so genau wissen, was die Behördenbasis so tut. Da stelle ich einfach mal banal die Frage: Wissen wir genau was unsere V-Mann-Führer tun? Wissen die genau, wer das ist? Wissen wir genau, wie die Interaktion von V-Mann-Führer und V-Leuten aussieht? Wissen wir, ob es in dieser Interaktion eine saubere Dokumentation gibt, so dass die Behördenleitung weiß, was da unten passiert? Also, ich setze da überall Fragezeichen. Das ist die eine Ebene der Aufsichts- und Kontroll­problematik. Und die andere Ebene ist: Ich glaube es wird deutlich, dass wir keine effektive parlamentarische Kontrolle über die Geheimdienste haben. Es gibt in den Landtagen die parlamentarischen Kontrollkommissionen. Aber wie läuft das denn ab? Die Ausschüsse können doch nur das überwachen, was ihnen vorgelegt wird. Und wenn denen etwas verschwiegen wird, hat es ein Ausschuss schwer, da die richtigen Fragen zu stellen. Was man nicht weiß, kann man nicht hinterfragen. Und ich glaube, dass ist die eine Lehre, die wir ziehen müssen aus dem, was momentan auf dem Tisch liegt. Und die andere Lehre ist die ganz banale Frage: Sind wir uns sicher, dass immer und überall die richtigen Leute über unsere Verfassung wachen?

Sind das überhaupt Verfassungswächter? Heribert Prantl hat mal so schön gesagt: Es gibt einen Verfassungsschutz, der sitzt in Karlsruhe und heißt Bundesverfassungsgericht und das andere sind Geheimdienste.
Das ist sozusagen die politische Wertung und eine politische Frage, die sehr wichtig und richtig ist. Die Frage, auf die ich anspiele, ist die persönliche Eignung des einen oder anderen Beamten. Mit persönlicher Eignung meine ich auch die politische Einstellung. Sind da überall Demokraten am Werk?

Das hieße aber, dass bestimmte Institutionen in der Bundesrepublik quasi unterwandert sind.
Unterwanderung liegt dann vor, wenn es eine quantitativ hohe Zahl von Beamten gibt. Das weiß ich nicht und das würde ich jetzt so auch nicht behaupten. Aber ich weiß, dass schon eine geringe Zahl von Rechtsradikalen in den Ämtern für großen Schaden sorgen kann.

Bilkay Öney, die Integrationsministerin in Baden-Württemberg, hat in diesem Zusammenhang vom „Tiefen Staat“ gesprochen. Der Begriff kommt aus der Türkei und bezeichnet eben die Verflechtung von Behörden mit dem organisierten Verbrechen. Wenn man sich das anguckt, was jetzt, auch über den Verfassungsschutz Thüringen, hochkommt – sie musste sich entschuldigen und ihre Äußerungen zurücknehmen – hat sie nicht eigentlich Recht?
Bilkay Öney hat in einer Diskussionsveranstaltung dem Begriff vom „Tiefen Staat“ nicht widersprochen, der nicht von ihr, sondern von einem anderen Teilnehmer kam. Das alleine reichte, um sie zum Gegenstand wütender und unfairer Angriffe zu machen. Ich persönlich  hoffe nicht, dass der Begriff vom „Tiefen Staat“ seine Berechtigung hat.   Aber festzustellen ist, dass ich das noch vor neun Monaten nie und nimmer geglaubt hätte, was jetzt gesichert vorliegt. Deswegen finde ich die  Art und Weise wie man von Seiten einiger CDU-Abgeordneter über Frau Öney  herfiel  so bedenklich. Bei mir hat es den Verdacht genährt, dass hier versucht wird, auch ein vorsichtiges Andeuten, dass etwas faul sein könnte in Deutschland, sofort mit politischer Vernichtung zu bestrafen. Einigen Leuten scheint „das Ansehen Deutschlands in der Welt“ wichtiger zu sein als ein mutiges Aufklären. Das Ansehen Deutschlands wird beschädigt, wenn wir nicht entschlossen aufklären und nicht andersherum. Ich finde, nachdem was in den letzten Wochen rausgekommen ist, hätte der ein oder andere CDU-Abgeordnete im baden-württembergischen Landtag Anlass, darüber nachzudenken, ob er sich nicht bei Frau Öney entschuldigen sollte. Wissen Sie, ich glaube, dass wir jetzt an einem Punkt sind, wo wir Sachen feststellen, die wir vor einem Jahr nie geglaubt hätten. Wo einfach die Fassungslosigkeit immer noch groß ist. Als Bürger dieses Landes glaube ich an dieses Land. Ich glaube an den Rechtsstaat. Ich glaube, dass wir eine funktionierende Gewaltenteilung haben. Aber ich glaube auch, dass wir Probleme haben. Und die Probleme müssen wir lösen. Und zur Lösung gehört eben auch, dass man Dinge offen anspricht und eben sich nicht sofort intellektuell, emotional, politisch in Schützengräben zurückzieht und Debatten nicht mehr zulässt. Wir haben in der Vergangenheit – um auf das Thema „Wer wacht über uns?“ zurück zu kommen – gezeigt, dass dieser Staat sehr, sehr vehement sein kann bei der Auswahl seiner Beamtinnen und Beamten. Wir haben Postboten aus dem öffentlichen Dienst rausgeworfen, weil sie DKP-Mitglieder waren. Diese Art von Gesinnungskontrolle der 1970er und 1980er Jahre, der Extremistenerlass, ging für meinen Geschmack viel zu weit. Aber ich möchte schon sicher sein, dass beispielsweise ein V-Mann-Führer, der in einer bestimmten Region Deutschlands über die rechtsradikale Szene wacht, nicht selber rechtsradikal ist. Und das ist doch nicht zu viel verlangt.

Gibt es einen Punkt, wo Sie – bei dem, was jetzt hochkommt oder was Sie wissen – sagen, ich schäme mich für Deutschland? Für meinen Rechtsstaat?
Nein, ich schäme mich nicht für Deutschland. Aber ich schäme mich für manchen Verfassungsschützer  und ich schäme mich für manche  Verfassungsschutzbehörde. Das schon. Ich möchte einfach nochmal den politischen Kontext herstellen. Wir haben eine offen rassistische, demokratiefeindliche Partei wie die NPD, die nur deswegen weiter existiert, weil dieser Verfassungsschutz ein Netz von V-Leuten aufgebaut hat, das so stark war, dass das Verfassungsgericht gesagt hat, dass diese Partei teilweise vom Staat gesteuert werde. Weil eben diese V-Leute auf unserer Payroll standen. Und nun sagen die gleichen Leute, die dieses V-Mann-Netz installiert haben, dass diese V-Leute leider so wenig Informationen geliefert haben, dass wir es nicht mehr mitbekommen haben, dass das Umfeld dieser Partei eine Terrororganisation unterstützt hat, die über 10 Jahre hinweg Menschen ermorden konnte.

Also müsste man doch, neben einem NPD-Verbot, eigentlich auch mal mit einer Debatte über eine Umstrukturierung oder eine komplette Änderung des Verfassungsschutzes nachdenken.
Ja, auf jeden Fall. Wir müssen über zwei Sachen nachdenken. Wir müssen über das Thema Sicherheitsarchitektur nachdenken und da muss man einfach sagen: Wir haben heute 16 Landesämter für Verfassungsschutz, wir haben ein Bundesamt für Verfassungsschutz, wir haben einen Bundesnachrichtendienst und wir haben einen militärischen Abschirmdienst. Dann haben wir 16 Landeskriminal­behörden und eine Bundeskriminalbehörde. Dann haben wir Spezialbehörden, wie beispielsweise das Zollkriminalamt, was auch nicht zu unterschätzen ist in seiner Arbeit, vor allem wenn es darum geht, die Ein- und Ausfuhr von Waffen zu kontrollieren. Dann haben wir ein Problem mit dem Zugriffrecht des Generalbundesanwalts. Es gibt momentan keine Regelung, bei der wir sagen könnten, dass der Generalbundesanwalt jedes mal dann, wenn er das Gefühl hat, hier ist eine Straftat verübt worden, die eben in seinen Aufgabenbereich fällt, dass er aktiv von sich aus den Fall an sich ziehen kann. Und zur Not auch gegen den Willen der örtlichen Staatsanwaltschaft. Also, wir haben eine ganze Reihe von rechtlichen und organisatorischen Fragen, die die Sicherheitsarchitektur betreffen. Wir haben eine ganze Reihe von Fragen, die die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts betreffen und wir haben die Frage nach der Auswahl und Kontrolle unserer Verfassungsschützer. Darüber muss eben jetzt auch sehr aktiv debattiert werden und ich finde – jetzt sind wir im 8. Monat der Entdeckung des NSU –, dass noch nicht sehr viel passiert ist. Wenn wir sagen, der Bundestagsuntersuchungsausschuss tagt bis Februar, der Endzeitpunkt, dann muss man auch befürchten, dass eben in dieser Legislaturperiode – was rechtliche Änderungen angeht – nicht mehr allzu viel passieren wird. Wir haben die Diskontinuität im Gesetzgebungsverfahren, d.h. alles, was wir jetzt oder im nächsten Frühjahr anfangen, ist vorbei mit der Bundestagswahl, die im Herbst nächsten Jahres stattfindet. Das ist aber die politische Dimension. Die gesellschaftliche Dimension, da hätte ich mir schon gedacht und erwartet, dass mehr als nur die üblichen Verdächtigen aufstehen und sagen, was ist hier eigentlich los? Wie kann das sein?

Was meinen Sie, warum das ausgeblieben ist?
Ich weiß es nicht. Es ist vielleicht eine Abstumpfung. Vielleicht ein Resultat des medialen und politischen Trommelfeuers in Richtung islamistische Gefahr nach 9/11. Vielleicht, dass Menschen einfach selber genug Sorgen haben in Fragen der wirtschaftlichen Zukunft und der Eurokrise. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir alle – egal ob wir Martin, Mehmet, Juan oder Hans heißen – in diesem Land doch Interesse haben müssen, dass wir keine rechten Terrorgruppen haben. Dass wir eben Vertrauen haben können in unsere Sicherheitsbehörden. Dass das doch ein Interesse ist, das wir alle teilen. Insbesondere deswegen, weil Deutschland sich ja in vielerlei Hinsicht gut entwickelt hat in den letzten 20 Jahren und wir jetzt auch anerkannt haben, dass wir ein Einwanderungsland sind.

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Wie ist das für ihre Mandanten? Wie gehen die damit um? Was für Eindrücke vermitteln die Ihnen?
Es herrscht natürlich blankes Entsetzen, Unfassbarkeit, Enttäuschung. Aber doch auch ein Grundvertrauen, dass der Staat seine Hausaufgaben macht. Ich glaube, an dieser Stelle muss eben diesem Vertrauen auch begegnet werden.

Herr Daimagüler, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Zur Person:
Mehmet Gürcan Daimagülers Eltern kamen als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland, wo er 1968 in Siegen das Licht der Welt erblickte. Ohne die ältere deutsche Nachbarin, die er liebevoll Oma nannte, würde er heute wohl nicht als einer der erfolgreichsten Deutsch-Türken gelten. Als ihn sein Klassenlehrer während der Grundschulzeit auf eine Sonderschule schicken wollte, weil Daimagüler angeblich zu wenig sprach, redete sie auf den Lehrer ein und überzeugte ihn von den Talenten des Jungen. Trotz seiner guten Leistungen bekam er lediglich eine Hauptschulempfehlung. Er war bildungshungrig, die Aufbau-Realschule und das Gymnasium folgten. Anschließend absolvierte er in Bonn sein Jurastudium, machte außerdem das Vordiplom in Volkswirtschaft, studierte einige Semester Philosophie und Romanistik.

Nach dem Zweiten Staatsexamen ließ er sich in Berlin nieder, wo er heute als Anwalt Teil einer Kanzlei ist, die ihren Sitz in der Nähe des Kurfürstendamm hat.

Im Oktober 2011 erschien sein Buch-Debüt „Kein schönes Land in dieser Zeit“.
Darin verarbeitet er seinen eigenen Werdegang als Kind von Gastarbeitern, seine Erfahrungen in der Schule, im parteipolitischen Betrieb (Er war Mitglied des FDP-Bundesvorstands. Verließ 2008 die Partei) und während des Studiums. Vor allem aber setzt er sich mit der deutschen Integrationsdebatte auseinander, die seiner Meinung nach, spätestens seit Sarrazins erster Buchveröffentlichung, äußerst kuriose, paradoxe und gefährliche Blüten treibt. Kritik an seiner eigenen Person bleibt dabei nicht unerwähnt. Er sagt von sich selbst, er habe, was die Realität als Bürger mit migrantischem Hintergrund angeht, opportunistisch 20 Jahre lang die Klappe gehalten, um seine Karriere nicht zu erschweren. Er sagt: „Das Buch ist, wenn es eine Abrechnung sein soll, eine Abrechnung mit mir selbst“.

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