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Die Wahrheit hinter der Lüge

Von Isabella Krebs / 23. Mai 2017
picture alliance / ZB | Sascha Steinach

Grundsätzlich missbilligen wir es zu lügen, obwohl es sich manchmal richtig anfühlt. Dieses Paradox überwinden Philosophen, in dem sie sich auf das alte Gebot einer goldenen Regel berufen.

Es ist doch seltsam: Obwohl wir es moralisch verwerflich finden zu lügen und Aufrichtigkeit in allen Kulturen als Wert an sich gilt, handelt es sich trotzdem dabei um ein weit verbreitetes Alltagsphänomen. So belegen Studien, dass pro Tag ein- bis zweimal Mal in persönlichen Gesprächen gelogen wird. Der amerikanische Psychologe Robert Feldmann fand überdies heraus, dass sich sogar Jobsuchende trauen, während eines zehnminütigen Bewerbungsgesprächs durchschnittlich 2,19 Lügen über vermeintliche Fähigkeiten zu erzählen.

Aber was ist eine Lüge und wie bewerten wir diese korrekt?

Nach den antiken Vorstellungen Augustinus‘ lügt derjenige, der absichtlich die Unwahrheit sagt, mit dem Ziel zu täuschen. So trägt gemäß dem Philosophen ein Lügner „etwas anderes im Herzen als das, was er ausdrückt“. Zwar unterscheidet Augustinus zwischen mehr oder weniger schlimmen Lügen, nennt jedoch alle eine Sünde, weil sie das Vertrauen des Gesprächspartners und die Sprache selbst missbrauche. Ein anderer Kirchenlehrer, der Dominikaner Thomas von Aquin, beurteilt im 13. Jahrhundert die Lüge ebenso als unmoralisch: „Ungehörig und unnatürlich“ sei es, wenn sich Haltung und das, was gesagt wird, unterscheiden.

Für Immanuel Kant schreibt nicht die Bibel das Lügenverbot vor, sondern die Vernunft. So könne kein vernünftig denkender Mensch Lügen gutheißen, schlussfolgert er, da niemand ein allgemeines Gesetz anstreben werde, das es erlaubt, die Unwahrheit zu sagen. Doch Kant geht noch weiter und lehnt etwa auch Notlügen ab. Ihm zufolge wäre es nicht rechtens, zum Schutzes eines anderen zu lügen. Dieser zynische Ansatz widerspricht unserer heutigen moralischen Intuition und dem Verständnis einer weiteren Gruppe, den Utilitaristen. Die Glücksforscher unter den Wahrheitssuchenden unterteilen Lügen in gut und schlecht, indem sie einzelne Handlungen ausschließlich gemäß dem Wohlergehen aller bewerten.

Eine Goldene Regel gegen moralischen Sprengstoff

Um Lügen, diesen moralischen Sprengstoff für jeden nachhaltigen zivilen Umgang miteinander, in den Griff zu kriegen, bedient sich die Mehrheit der Philosophen – gleich welchen kulturellen Hintergrund sie vorweisen – einer allgemein gültigen und somit eigentlich verständlichen „Goldenen Regel“. Demnach sollten wir selbst nur tun und lassen, was wir auch von anderen erwarten.

Was simpel, ja geradezu einfältig daherkommen mag, hat es in sich. Immerhin bedeutet dieses Prinzip in letzter Konsequenz auf sich selbst angewandt, dass ich akzeptieren muss, in einer bestimmten Situation belogen zu werden, wenn ich selbst meine, in einer vergleichbaren Situation lügen zu dürfen. Und, seien wir mal ehrlich, wie oft kommt es vor, dass wir denken, unser Lügen sei gerechtfertigt?

Wahrhaftigkeit in der Medizin

Doch so einfach ist es nicht. Das Dilemma schreibt sich in vielfältigen Lebensbereichen fort. Muss eine Ärztin ihrer Aufklärungspflicht gegenüber einem Patienten nachkommen, wenn sie glaubt, dass ihn das detaillierte Wissen um seine Krankheit seelisch zu sehr belasten und damit den Heilungsprozess behindern könnte? Ist sie als Ärztin nicht verpflichtet, sich vor allen Dingen um die Gesundung ihres Patienten zu sorgen?

Der Bundesgerichtshof hat jedoch bereits in den fünfziger Jahren entschieden, dass die freie Selbstbestimmung des Patienten über den ärztlichen Bedenken steht, er könne die Wahrheit nicht verkraften. Das Informationsrecht des Patienten wiegt schwerer als die Furcht, er könne aufgrund seiner psychischen Verfassung oder gar „Persönlichkeit“ die volle Wahrheit nicht verkraften.

Die Ausnahme von der Pflicht

Das Bundesverfassungsgericht wiederum hat die Wahrheitspflicht in einem anderen Fall deutlich zurückgenommen. So gehört es im Strafrecht dem Gericht zufolge zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, sich durch Wahrheitsbekundung nicht selbst in Gefahr zu bringen. Anders gesagt, es gibt keinen Zwang, sich durch Zugeben einer Straftat selbst zu belasten. Dem Gesetz nach darf der Staat den Einzelnen nicht in eine solche Konfliktlage bringen. Lediglich in zivilrechtlichen Angelegenheiten gilt die prozessuale Wahrheitspflicht.

Ein wiederum verstörendes Beispiel für eine regelrechte Pflicht zur Lüge findet sich in der Geschichte des französischen Alpendorfs Dieulefit. Um 1941 mehr als tausend jüdische Kinder und Erwachsene vor der Auslieferung durch das Vichy-Regime an die Nazis zu bewahren, entscheidet sich die 23-jährige Sekretärin Jeanne Barnier, deren Dokumente zu fälschen. Ihr hilft Pater Georges Magnet, der allen Betroffenen entsprechend rückdatierte Taufscheine ausstellt, um die Wahrheit, die sie umgibt, den Behörden gegenüber zu vertuschen. Und nicht zuletzt die kleine Dorfgemeinschaft hat durch tapferes Schweigen die lebensbedrohliche Situation entschäft. Das dafür gelogen werden musste, hat zum Glück jeder in Kauf genommen.

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