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Die Zwiebelkrise

Von Marc Saxer / 4. Januar 2012
picture alliance / imageBROKER | Jiri Hubatka

Athen und Rom, die Wiegen der Demokratie, werden von ungewählten Technokraten verwaltet. Private Gläubiger werden aus jeder Mithaftung für die von ihnen eingegang­enen Risiken entlassen. Die Kreditwürdigkeit der wirtschaftlichen Kernländer USA, Japan, Frankreich und Deutschland wird in Frage gestellt. London isoliert sich vom europäischen Kontinent. Die Eurostaaten erdrosseln sich mit einem Spar-Korsett. Die Gesellschaften Amerikas, […]

Athen und Rom, die Wiegen der Demokratie, werden von ungewählten Technokraten verwaltet. Private Gläubiger werden aus jeder Mithaftung für die von ihnen eingegang­enen Risiken entlassen. Die Kreditwürdigkeit der wirtschaftlichen Kernländer USA, Japan, Frankreich und Deutschland wird in Frage gestellt. London isoliert sich vom europäischen Kontinent. Die Eurostaaten erdrosseln sich mit einem Spar-Korsett. Die Gesellschaften Amerikas, Europas und des Mittleren Ostens sind in Aufruhr.

Wir leben in stürmischen Zeiten. Große Krise, überall.

Was ist der Kern dieser Kaskade von Krisen und Katastrophen? Man muss die Zwiebel Blatt um Blatt schälen, um ihr Innerstes zu erkennen.

Die Außenhaut: Eurokrise

Die Zwiebel, so will man uns weismachen, sei im Kern eine „Staatsschuldenkrise“. Und tatsächlich dreht sich die europäische Politik ja seit Monaten um nichts anderes als das Schuldenmachen, um die alten Schulden bedienen zu können. Da zeige sich eben die Kreditabhängigkeit der regierenden Junkies, schreien die Finanzmärkte. Sollen wir jetzt etwa, schreit der Boulevard, für den Schlendrian der faulen Südländer aufkommen? Harter Entzug wird verschrieben, um die Sucht nach Staat und Gerechtigkeit endlich zu überwinden!

Die zweite Haut: Finanz- und Wirtschaftskrise

Doch man muss nur das äußerste Häutchen der Zwiebel abschälen, dann kommt darunter die Krise der Finanzmärkte zum Vorschein. Hatten die europäischen Staaten nicht gerade erst die Banken gerettet? Waren es nicht die obszönen Geschäftsmodelle der Hedgefonds, die die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds gebracht haben? Ist es nicht die übergroße Verletzbarkeit der Banken, die die Eurokrise so gefährlich macht? Nur aus diesem Blickwinkel machen die Sparorgien, die der europäischen Peripherie aufgezwungen werden, irgendeinen Sinn. Das Zusammenstreichen der Staatsausgaben mitten in einer Rezession mag volkswirtschaftlicher Selbstmord für die Griechen, Italiener, Spanier und Portugiesen sein. Um die Anlagewerte der wankenden Großbanken zu stabilisieren, müssen deren Schuldner aber demonstrieren, dass sie eher zugrunde gehen, als ihre Kredite nicht mehr zu bedienen. Den protestierenden Völkern und ihren uneinsichtigen Parlamenten werden daher ungewählte Vizekönige vorgesetzt, die in ihren Protektoraten dieselben Kürzungsorgien exekutieren, die die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen Nord und Süd erst haben entstehen lassen. Während Südeuropa in Schuldensumpf und Rezession versinkt, ist es den Finanzmärkten also wieder einmal gelungen, ihre Dominanz gegenüber ihren staatlichen Rettern zu festigen.

Die Staatsschuldenkrise ist also nur eine weitere Eskalationsstufe der Finanz- und Wirtschaftskrise, die seit Jahren die Zentren des Finanzkapitalismus erschüttert. Diese Krise ist kein Unfall, sondern die zwingende Folge eines Wirtschaftsmodells, das über Jahrzehnte Ungleichgewichte zwischen Exporteuren und Konsumentenmärkten, zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd aufgebaut hat. Die Weltwirtschaft pendelt nun in ein neues Gleichgewicht- in einem epochalen Erdbeben, das gigantische Mengen an Kapital vernichtet. Warum mussten die Ungleichgewichte aufgebaut werden? Weil das marktradikale Wirtschafts­modell einzig darauf fixiert ist, die Seite des Angebots zu verbessern, aber nicht genügend Nachfrage generiert. Denn marktradikale Ideologen sehen in Gemeinschaftsaufgaben nur Standortnachteile, in Löhnen nur Kosten und in Staaten nur erstickende Bürokratie. Haben Staat und Bürger aber kein Geld mehr in der Tasche, können sie nicht mehr ausreichend konsumieren und investieren, um die Wirtschaftsmaschine am Laufen zu halten. Dieser Mangel an Treibstoff wurde eine Weile durch ein Strohfeuer ersetzt: Staat und Bürger verschuldeten sich, um weiter konsumieren zu können. Woher kam das Geld für all die schönen Dinge, die wir uns gar nicht leisten konnten? Na, von daher, wo auch all die schönen Dinge kamen: aus China und all den anderen neuen Produzentenländern, die ein Interesse daran hatten, dass wir ihre Produkte weiter kaufen. Übrigens auch aus Deutschland, das seine Probleme buchstäblich exportierte. Das konnte nicht ewig gut gehen, und ging nicht ewig gut. Als das letzte Tafelsilber ver­scheuert war, kam die große Party zum Stillstand. Die Finanzkrise ist also kein Unfall, sondern die notwendige Folge eines fehlerhaften Wirtschaftsmodells.

Wie konnte ein Wirtschaftsmodell, das derartig riskant ist, unser wirtschaftspolitischer Kompass werden? Wie konnte ein Wirtschaftsmodell, das derartige soziale und ökologische Verwerfungen produziert, solange bejubelt werden? Wie ist es möglich, dass dieses Wirtschaftsmodell, obwohl es vor aller Augen an seinen eigenen Widersprüchen gescheitert ist, immer noch als alternativlos gilt?

Die dritte Haut: Krise des Marktradikalismus

Weil dieses Wirtschaftsmodell nur die Folge der marktradikalen Ideologie ist, der sich der Westen unterworfen hat. Im Kern ist der Marktradikalismus eine fundamentalistische Pervertierung des Liberalismus. Der liberalen Tradition folgend sieht auch diese Ideologie die Freiheit von staatlichem Zwang bedroht, und setzt dem Obrigkeitsstaat die ungehinderte Interaktion der Individuen in einem freien Markt entgegen. Die Philosophie der Freiheit wurde von den neoliberalen Ideologen Ende der 1970er Jahre neu aufgemöbelt und gegen das von Ölkrisen, Inflation und Massenstreiks gelähmte Modell der Nachkriegszeit in Stellung gebracht. Freiheit wurde aber nicht mehr als Fundament der demokratischen Gesellschaft verstanden, sondern als unbegrenzte Handlungsfreiheit verabsolutiert. Entsprechend munitioniert gingen neoliberale Reformer mit der Abrissbirne durch den staatlichen Regelungsrahmen, und stutzten den Staat zurück wo sie nur konnten. Diese Deregulierungs- und Privatisierungsorgien waren der Startschuss für den globalisierten Finanzkapitalismus. Der Zusammenbruch der kommunistischen Systemalternative öffnete endgültig alle Schleusen zur globalen Verbreitung des Marktradikalismus. Ein Goldrausch für all diejenigen, die für die grenzenlose Freiheit gewappnet waren. Für alle anderen lieferte der Wettbewerb mit den neuen Standorten in Osteuropa und Fernost den passenden Knüppel: wenn wir unsere Anbieter nicht von allen Gemeinschaftsaufgaben entlasten, dann gehen sie – oder werden gefressen!

Die vierte Haut: Krise der Politik

Genau hier liegt auch die Ursache der Staatsschuldenkrise: eingeklemmt zwischen Standortsicherung und Daseinsvorsorge blieb nicht viel mehr, als die unlösbaren Finanzierungsprobleme auf morgen zu verschieben. Die Staatsschuldenkrise ist im Kern eine politische Krise: die politischen Eliten hatten nicht mehr die Kraft und den Mut, den desillusionierten Bürgern Beiträge oder gar Opfer abzuverlangen. Das Ende des Systemkonfliktes hat den gesellschaftspolitischen Projekten des Westens nicht nur den Gegner, sondern auch die Utopie genommen. Ohne Vision und Ziel verloren die politischen Projekte von links bis rechts ihre Bindungs- und Mobilisierungskraft. Die Bürger haben nach dem Scheitern aller Utopien, dem Versumpfen der Träume von einer besseren Welt in Sachzwängen, Verteilungskämpfen und Korruption den Glauben an die Gestaltungsmacht des Staates verloren. Der Mangel an Vision und Glauben hat die Schaffung neuer politischer Instrumente behindert, die Gestaltung unter den Beding­ungen des globalisierten Finanzkapitalismus wieder ermöglichen würden. Es war die tief sitzende Skepsis gegen die marktgetriebene Integration Europas, die die Schaffung effektiver Institutionen verhindert hat, die wir heute zur Einhegung Amok laufender Finanzmärkte dringend bräuchten.

Die fünfte Haut: Krise der Demokratie

Und so wird aus dem Versagen der Politik eine Krise der Demokratie. Die demokratisch verfassten Nationalstaaten können die Lebensbedingungen ihrer Bürger nicht mehr verbessern. Sie können Gefahren nicht mehr abwehren. Sie können kaum noch die Daseinsvorsorge sicherstellen. Und sie sind zu schwach, um den Willen ihrer Bürger gegenüber den Finanzmärkten durchzusetzen. Ein System, das seine Aufgaben nicht mehr erfüllt und seinen Gründungsvertrag bricht, verliert seine Legitimität.

Die Finanzkrise schließlich war der Offenbarungseid des Marktradikalismus. Das Wirtschaftsmodell scheitert an seinen inneren Widersprüchen. Die Fäden der politischen Marionetten wurden für alle sichtbar. Der mystische Glaube an die Allmacht des Marktes wurde entzaubert. Aber wie war es überhaupt möglich, dass die Ideologie des Marktes zur unhinterfragten Matrix des Westens wurde?

Woher aber kam überhaupt dieses Misstrauen gegenüber dem Staat, der doch nach den totalitären Exzessen des 20. Jahrhundert recht erfolgreich gezähmt worden war? Warum haben die politischen Eliten vor den Märkten kapituliert? Warum haben die Gesellschaften nach über einem Jahrhundert Verteilungskampf die Zerschlagung der sozialstaatlichen Errungenschaften so klaglos hingenommen? Kurzum: Warum haben die Menschen aufgehört, für eine bessere Zukunft zu kämpfen?

Der Kern der Zwiebel: ein schwarzes Loch

Nun dringen wir in den Kern der Zwiebel vor: Die großen Utopien haben sich allesamt als totalitäre Irrwege erwiesen. Die neuen Technologien haben keineswegs nur neue Segnungen gebracht. Der Wohlstand hat kein glückliches Leben für alle geschaffen. Das Projekt der Moderne, der beständige Fortschritt in eine bessere Zukunft, der lange Marsch in eine gerechtere Gesellschaft, der immer neue Aufbruch zu neuen Ufern, ist einer großen Resignation gewichen. Den westlichen Gesellschaften ist der revolutionäre Horizont abhanden gekommen. Enttäuscht von ihren eigenen Träumen verwalten sie nur noch das Erreichte. Ernüchtert von falschen Missionen ergeben sie sich in ihren scheinbar unvermeidlichen Abstieg. Alle Illusionen sind entlarvt, alle Hoffnungen dekonstruiert. Ohne religiöse Hoffnung, ohne metaphysisches Versprechen, ohne politische Vision von einer goldenen Zukunft kann es kein progressives Projekt mehr geben. Wo nichts mehr zu kämpfen lohnt, organisieren sich die Menschen nicht mehr. Wo es keinen epischen Kampf mit einem externen Gegner, kein Generationenprojekt für eine bessere Zukunft mehr gibt, da braucht es auch keinen revolutionären Staat mehr. Nachdem Gott für tot erklärt, der Staat gescheitert ist und das Proletariat das Interesse am Kommunismus verloren hat, bleibt kein Hoffnungsträger mehr, außer dem System an sich. Nicht umsonst hat Adam Smith Gottes unsichtbare Hand im Markt verordnet. Wenn die Revolution von oben scheitert, muss sich die Hoffnung auf die Evolution aus der freien Interaktion der Individuen richten. Es war die Enttäuschung über das Scheitern aller Utopien von einer besseren Gesellschaft, die dem markradikalen „Jeder für sich“ den Weg bereitet hat. Es war die Hoffnung auf die evolutionäre Mystik des Chaos, die den Markt zum Fetisch der Postmoderne gemacht hat. Im Kern der Zwiebel liegt also eine philosophische und spirituelle Krise des Westens.

Nun, da auch der Glaube an die Mystik des Marktes entzaubert wurde, bleibt nur die nackte Realität von Schuldenbergen, Klimawandel und globalem Abstieg. Ohne die Vision einer besseren Zukunft lassen sich aber die Probleme der Gegenwart nicht überwinden. Ohne ein neues Wirtschaftsmodell bleibt die Krisenreaktion ohne Orientierung. Ohne Vision einer neuen Ordnung bleibt die Politik ohne Kompass. Ohne die Vision einer guten Gesellschaft kommen die Menschen nicht zu neuer Gemeinschaft zusammen. Ohne die Utopie eines besseren Morgen werden die Menschen nicht um die Überwindung des Heute kämpfen. Ohne eine neue Metaphysik können die fiskalischen, wirtschaftlichen, politischen, demokratischen und gesellschaftlichen Krisen nicht überwunden werden. Wir brauchen eine neue Vorstellung davon, worauf wir hoffen dürfen. Wir brauchen eine Vision davon, was wir erreichen wollen. Wir brauchen einen alternativen Pfad, der in diese bessere Zukunft weist. Und wir müssen die Art, wie wir zusammen leben nach diesem neuen Bauplan umstellen.

4 Antworten auf „Die Zwiebelkrise“

  1. Von Chango am 13. Januar 2012

    Ich finde Ihre Ausführungen sehr nachvollziehbar, Herr Saxer. Aber wer kann an welcher Stelle welche Philosophie, welche neue Metaebene schaffen und diese dann auch dementsprechend kommunizieren, sprich nachhaltig auf dem Markt der Aufmerksamkeiten, Ideen und Deutungshoheiten etablieren?

    1. Von Marc Saxer am 29. Januar 2012

      Ich finde hier Slavoj Zizeks Projekt, den postmarxistischen Materialismus in eine Allianz mit dem anderen großen Emanzipationsprojekt- der christlichen Theologie- zu bringen spannend. In diesen Mix gibt er noch Lacans Psychoanalytik, der er revolutionäres Potential unterstellt. Ziel ist erklärtermassen nichts weniger als ein gegenhegemoniales Projekt zum Finanzkapitalismus und dessen ideologischen Schwesterchen, dem neoliberalen Multikulturalismus.
      Nun gilt es solche Projekte auf ihre Verwertbarkeit zu überprüfen und für den politischen Hausgebrauch zu bastardisieren (das macht YouTube Superstar Zizek ja bereits ganz gut, wenn auch hinreissend nerdy). Wer soll das tun- wer, wenn nicht wir?

  2. Von Chango am 13. Januar 2012

    Zeit für Ausführungen über NGO- oder Grassroot-PR? 🙂

  3. Von bastian am 25. Januar 2012

    Gut zusammengefasst (büschen lange vielleicht), unser Krisenkarussell. Aber dann trostlos am Ende. Denn welche Idee sollte das denn sein, die uns da aus dem schwarzen Loch der Zwiebel ins gelobt Land katapultiert? Davon ist ja weit und breit nichts zu sehen, wenn man mal von dem erstarkenden Nationalismus mal absieht, der in der Vergangenheit immer wieder zum Löcherstopfen getaugt hat und entsetzliches Unheil damit angerichtet hat. Ist es das was uns erwartet?

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