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Erwachsenwerden in Ostdeutschland

Von Friederike Teller / 9. Oktober 2019
picture alliance / dpa | dpa

Wir leben seit fast 30 Jahren in einem wiedervereinten Deutschland. Aber noch heute trennen uns in unseren Köpfen verankerte Vorurteile. Warum wir viel mehr über unsere gemeinsame und getrennte Vergangenheit sprechen müssen.

Ich bin in Ostdeutschland acht Jahre nach der Wiedervereinigung geboren. Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) ist etwas, wovon ich in meiner Kindheit durch die Geschichten meiner Eltern und Großeltern erfahren habe. Sie erzählten mir davon, wie mein Opa plötzlich seine sterbenskranke Mutter nicht mehr besuchen konnte, weil eine Mauer beide voneinander trennte. Auch von der Überwachung durch die Stasi, den Staatsicherheitsdienst der DDR, und durch Nachbar*innen, Kolleg*innen und sogar Freund*innen wurde manchmal geredet. Doch diese Zeit kam mir fremd vor, die DDR fühlte sich weit weg an. Komisch fand ich deshalb auch, wenn mich meine Mutter neugierig fragte, ob ich bei meinen Freund*innen Unterschiede bemerkte – je nachdem, ob sie aus dem Osten oder Westen kämen. „Nein, so etwas erkenne ich doch nicht, nicht in meiner Generation“, entgegnete ich damals und wunderte mich über ihre Frage.

Dass dieser Osten mich aber tatsächlich sehr geprägt hatte, verstand ich erst, als ich zum Studieren nach Heidelberg in den Westen zog. Die Unterschiede, die meine Mutter damals vielleicht gemeint hatte, fielen mir immer mehr auf. Die ersten Gespräche mit meinen Kommiliton*innen drehten sich oft um die Frage, wo man denn aufgewachsen sei. Viele überraschte es, dass ich aus Sachsen komme, weil ich ja nun wirklich so gar nicht sächsisch spräche. Das war als Lob zu verstehen, denn Sächsisch, so die verbreitete Meinung, sei kein wohlklingender Dialekt, sondern eine dümmlichere Sprechweise. Leipzig rief bei vielen dagegen positive Reaktionen hervor. Obwohl nur wenige meiner Mitstudent*innen schon einmal in Ostdeutschland gewesen, hatten sie von der bunten Kunst- und Kulturszene „Hypezigs“ gehört. Freund*innen aus Chemnitz oder Dresden wurden hingegen häufig direkt auf Nazis und Fremdenfeindlichkeit angesprochen.

Meine Generation der „Ost-Millennials“, wie die Journalistin Thembi Wolf sie taufte, identifiziert sich oft bewusst als ostdeutsch. Dieses Selbstverständnis schützt vor negativen Fremdbestimmungen. Es hilft, den Pauschalisierungen über den Osten persönliche Erfahrungen entgegenzustellen. Denn die Grenze zwischen Ost und West besteht in vielen Köpfen, auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, hartnäckig weiter.

Lokales Gedenken ist zu wenig

Als ich begann, nach Antworten für diese Unterschiede und Vorurteile zu suchen, fiel mir auf, dass viele junge westdeutsche Menschen nur wenig über die Geschichte der DDR und die Wiedervereinigung wissen. Wir redeten früher am Küchentisch oft selbstverständlich über diese Zeit. Schließlich haben da Menschen durch ziviles Engagement, durch Gespräche, mit Kerzen und ohne Gewalt ein Unrechtsregime gestürzt. Eine Mauer, die fast 30 Jahre lang Familien getrennt, offiziell 1.613 Menschen das Leben gekostet und freies Reisen unmöglich gemacht hatte, war von einem Tag auf den anderen gefallen. Und das waren nicht irgendwelche Menschen, das waren die Eltern und Großeltern von meinen Freund*innen und mir. Ich finde es deshalb schade, dass wir gesamtdeutsche Jubiläen wie 70 Jahre Grundgesetz feiern, dass Gedenken an diese friedliche Revolution vor 30 Jahren überwiegend nur lokal stattfindet.

Erst langsam beginnt die Auseinandersetzung auch über die deutsche Geschichte seit der Wiedervereinigung. Sie wird dabei vorwiegend von ostdeutschen Akteur*innen wie zum Beispiel dem Verein Aufbruch Ost oder der Stiftung Friedliche Revolution vorangetrieben. Durch den Mangel an ostdeutschen Redaktionen und Medien wird Unwissenheit und Ungleichheit aber immer noch institutionalisiert. Medien berichten in einer Art „Ostalismus“ über Ostdeutschland – am liebsten als negative Norm-Abweichung zum einstigen (West-) Deutschland. Diese negative Darstellung und Homogenisierung des Ostens als Außenfaktor stabilisiert vor allem die positive (west- )deutsche Identität, so die Theorie der Politikwissenschaftlerin Rebecca Pates. Solche medialen Wahrnehmungen prägen unsere Gegenwart und Zukunft.

Einmal erklärte mir ein alter Mann auf einer Parkbank, dass in der DDR auch nicht alles schlecht gewesen sei. Ich schaute ihn damals verständnislos an. Heute weiß ich, dass er nicht nur „ostalgisch“ war, sondern in einigen Punkten recht hatte. Eine geringe Arbeitslosenquote, die Emanzipation der Frau auf dem Arbeitsmarkt, ein wenn auch ungewolltes, sehr reduziertes und regionales Konsumverhalten und das daraus entstehende Improvisationstalent sind nur einige (ostdeutsche) Qualitäten. Es ist unsere Pflicht, unsere Assoziationen gegenüber „dem Osten“ zu hinterfragen und diese mit der radikalen Vielfalt Deutschlands zu konfrontieren. Es ist an der Zeit, Verwandte und Unbekannte nach ihren Gedanken zur Mauer und Wendezeit zu fragen. Wir müssen nach ostdeutschen Stimmen in der Öffentlichkeit sowie in Führungsetagen suchen und sie gegebenenfalls einfordern. Ein tieferes Verständnis und eine vorurteilsfreiere Kommunikation können ost- und westdeutsche Lebensrealitäten weiter annähern. Sie bilden die Basis, auf der infrastrukturelle Reformen sowie eine konsequente Lohn- und Rentenangleichung durchgesetzt werden können. Das ist unsere gemeinsame Verpflichtung und Chance, denn die Wiedervereinigung geht alle Generationen etwas an.

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