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ESC ohne Naidoo: Es bleibt progressiv

Von Daniel Lehmann / 17. Dezember 2015
picture alliance / dpa | Gregor Fischer

Xavier Naidoo wird beim Eurovision Song Contest 2016 in Stockholm nicht für Deutschland antreten. Das ist gut für den Wettbewerb – und für Europa.

Gerade einmal zwei Tage lang durfte sich Xavier Naidoo offiziell als deutscher Vertreter für den Eurovision Song Contest 2016 feiern (oder wohl eher kritisieren) lassen, ehe der NDR seine Nominierung nach heftigen Protesten zurückzog. Nachdem die ARD schon mit dem Verzicht auf den sonst üblichen Vorentscheid und der eigenmächtigen Festlegung auf den umstrittenen 44 Jahre alten Sänger überrascht hatte, folgte mit dem plötzlichen Rückzieher der nächste Paukenschlag.

„Es war klar, dass er polarisiert, aber die Wucht der Reaktionen hat uns überrascht. Wir haben das falsch eingeschätzt“, äußerte sich ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber zu der Entscheidung, Naidoo nicht für Deutschland antreten zu lassen. „Die laufenden Diskussionen könnten dem ESC ernsthaft schaden.“ Zuvor hatte vor allem die Medienlandschaft mit deutlicher Kritik auf die Bekanntgabe reagiert, warnte vor einem „falschen Signal“ (Panorama), sprach von „blankem Hohn“ (Süddeutsche Zeitung), und verkündete „‘Deutsches Reich – twelve points‘ (Zeit Online).

Als Sänger groß, menschlich konfus

Tatsächlich spaltet Naidoo nicht erst seit der ESC-Debatte Musikfans in zwei Lager. Für die einen ist er ein großer Soul-Sänger, der spätestens mit dem Song „Dieser Weg“ zur Fußball-WM 2006 in den nationalen Pop-Himmel aufgestiegen ist und mit den Shows The Voice of Germany und Sing meinen Song auch im Fernsehen Bekanntheit erlangt hat. Wahrscheinlich bekundeten deshalb 121 Prominente in einer ganzseitigen Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ihre Solidarität und Unterstützung mit Naidoos ESC-Plänen. Unter anderem von Til Schweiger, Michael Mittermeier und Herbert Grönemeyer gab es via Facebook Rückendeckung („einer der besten deutschen Sänger für den ESC“).

Für die anderen ist Naidoo vor allem ein Verschwörungstheoretiker. Seine diffusen bis konfusen Weltanschauungen machen ihn zum wohl umstrittensten deutschen Sänger. Er erklärte bereits 2011 im ARD-Morgenmagazin: „Wir sind nicht frei. Wir sind immer noch ein besetztes Land.“ Das ist eine Ansicht, die in Deutschland die sogenannten Reichsbürger teilen – vor denen er im vergangenen Jahr auftrat. Zudem lassen sich Passagen seiner Songs als homophob („Wo sind sie jetzt?“) und antisemitisch („Raus aus dem Reichstag“) interpretieren, was jeweils zu Klagen führte. Dabei wirkte Naidoo früher sogar bei Rock gegen Rechts-Konzerten mit. Zuletzt veröffentlichte er „Nie mehr Krieg“. Darin heißt es: „Muslime tragen den neuen Judenstern, alles Terroristen, wir haben sie nicht mehr gern.“

Elf Sekunden Aufregung

„Xavier Naidoo hat mehrfach Äußerungen getätigt, die man nicht gutheißen kann und missbilligen muss“, sagte ARD-Programmdirektor Volker Herres der Welt am Sonntag. Ob ihn das für den ESC unmöglich mache, hätte intern ausdiskutiert werden sollen. Dass dies nicht passiert ist, kann man als Glücksfall für den Wettbewerb betrachten. Selbst wenn die Vorwürfe gegen Naidoo komplett haltlos wären, bliebe ein unschöner Beigeschmack. Erst recht, wenn man sich den progressiven Charakter des Eurovision Song Contests vor Augen führt.

Neben der politischen Dimension (beispielsweise Nicoles „Ein bisschen Frieden“ während des Kalten Krieges oder die musikalische Verarbeitung des Genozids an den Armeniern beim diesjährigen ESC in Wien) war und ist der Liederwettstreit stets Spiegelbild und Gradmesser für gesellschaftliche Prozesse hin zu mehr Offenheit und Toleranz.

1957 waren erstmals Duos erlaubt, was die dänischen Vertreter Birthe Wilke und Gustav Winckler sogleich für einen elf Sekunden langen Kuss vor laufenden Kameras nutzten – wenn auch nicht ganz beabsichtigt. Für damalige Verhältnisse war der Kuss ein Aufreger, der aber in der Folge den Umgang mit öffentlicher Sexualität und Zuneigung beeinflusst haben dürfte.

Dragqueens für mehr Toleranz

Lange vor Conchita Wurst traten bereits 1986 mit den Great Garlic Girls als Begleitung für Ketil Stokkan die ersten Dragqueens auf. Als erste transsexuelle Künstlerin sorgte Dana International 1998 für Aufsehen und konnte in Großbritannien mit dem Song „Diva“ für Israel den Titel holen. Sestre für Slowenien (2002), DG für Dänemark und Verka Serduchka für die Ukraine (jeweils 2007) waren weitere Dragqueens, die mit ihren Auftritten für mehr Toleranz und die Gleichberechtigung von LGBT in ihren Ländern und ganz Europa warben. Zwei Jahre nach Conchita Wurst einen Mann nach Stockholm zu schicken, dessen Haltung gegenüber Nicht-Heterosexuellen nicht klar tolerant ist, wäre daher in der Tat ein Rückschritt.

Ob Xavier Naidoo als deutscher Starter trotzdem erfolgreich gewesen wäre, bleibt Spekulation. Måns Zelmerlöw hatte 2014 in einer Fernsehsendung Homosexualität als unnatürlich bezeichnet. Den 60. ESC in Wien hat der Schwede trotzdem gewonnen.

Eine Antwort zu “ESC ohne Naidoo: Es bleibt progressiv”

  1. Von ripanti am 18. Dezember 2015

    Schön zu sehen, dass heute auch andere Medien das Thema aufgreifen.

    http://www.lead-digital.de/aktuell/social_media/was_jeder_marketer_aus_dem_esc_debakel_um_xavier_naidoo_lernen_kann

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