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Fern

Von Melike Berfê Çınar / 28. Dezember 2021
picture alliance / imageBROKER | Martin Siepmann

Wie wenig wir voneinander wissen. Wissen wollen, wissen können? Die Berlinerin Melike Berfê Çınar bewegen diese Fragen heute mehr denn je.

Vor 60 Jahren begann mit dem ersten Anwerbeabkommen offiziell die Zuwanderung aus der Türkei. Und dieses Jubiläum hat gefühlt mehr Aufmerksamkeit bekommen, als den Menschen selber, die damals kamen, je zuteilwurde. Und das scheint ja wirklich lange her – 60 Jahre, vergangen, lange her. Und doch immer noch so nah. In den Strukturen in weiten Teilen unserer Gesellschaft scheinen sie noch zu bestehen, die Verträge mit den „Gästen“, den mittlerweile gar nicht mehr so dankbaren, gar nicht mehr so zerlumpten Menschen, deren Abreise für ein längst vergangenes Datum vorgesehen war. In unserer Gesellschaft gibt es keine Selbstverständlichkeit der Vielfalt, kein verinnerlichtes Recht auf die Freiheit von identitätsbezogener Abwertung, auf gleiche Rechte, Würde und gerechte Chancen. Ich sollte vielleicht anerkennen, dass diese Menschen immerhin nicht verschleppt und zur Arbeit gezwungen wurden. Auch das ist passiert, vergangen, lange her – im Fall des deutschen Kolonialismus gar kaum je wirklich erzählt, als strukturelle Wahrheit verleugnet. Menschen können über Jahrhunderte Ziel des gewaltvollen Othering werden, das mit Unsichtbarkeit beginnt und stets mit Vernichtung zu enden droht.

Angesichts der multipel vorhandenen Abwehr- und Abwertungsmechanismen in unserer Gesellschaft wohnt auch eine große Sehnsucht in uns. Uns allen.

Fern- und Heimweh eint die Problematik, dass sie letztlich unstillbar bleiben müssen. Denn die Ferne muss fernbleiben und damit bleibt stets das Weh wie das Heilsversprechen des Heims meist unerfüllt.

Migration bedeutet auch die ewige Sehnsucht danach, in Sicherheit zu sein, angekommen zu sein, etwas abgeschlossen zu haben. Wenn auch kaum vergleichbar, liegt sie denjenigen Migrationen, die Verfolgung, Krieg und Armut zu entrinnen suchen, ebenso zugrunde wie jenen, die am Kaminfeuer mit dem System ringen und einen Abgleich mit Armut und anderen Realitäten im Gap Year oder Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im Ausland suchen.

Die Sehnsucht wegzugehen, gleicht der Sehnsucht, anzukommen. Dort, wo wir nie waren. In einem Heim in weiter Ferne, als könnten wir hinter uns lassen, was uns bedrückt. Die Sucht danach, sich zu sehnen, auch bei den vermeintlich Angekommenen, reist stets mit. Und wenn das Sehnen fort ist, scheint mir, bleibt die Sucht.

Jede Sucht hat ja mit Sehnen zu tun, auf die eine oder andere Art: sich sehnen nach etwas oder jemandem, so manches Mal, nach sich selbst. Weil Zeit nicht alle Wunden heilt. Weil sie Narben bildet oder dort, wo Wunden klaffend offenbleiben, gar keinen großen Unterschied macht.

Die Zeit ist ein merkwürdiges Konstrukt, das ich nie richtig begriffen habe. Sie wird uns als linear beschrieben, dabei ist sie alles andere als das. Vergangenes vergeht eben nicht, es kann uns sogar für immer ganz gegenwärtig begleiten, im guten wie im schlechten Sinn. Gepaart mit unserem Gedächtnis, sei es uns bewusst oder nicht, entstehen in uns ganze Hallen der Sehnsucht nach vergangenem, nie gewesenem und einer tröstlichen Idee der Zukunft.

Ich konnte mir lange Zeit, ganz ehrlich, gar nicht vorstellen, dass Dinge auf der Welt sich in einem ständigen Fluss befinden. Ich war getrieben von der Idee, ich müsse nur einen Zustand herstellen, in dem es irgendein „für immer“ gab und dann würde dieser Zustand „für immer“ bleiben. Eine zutiefst kindliche Sicht auf die Dinge, zugegeben. Und nicht sehr förderlich für das gute Auskommen mit sich selbst.

Das hat etwas mit dem Narrativ des linearen Zeitverlaufs zu tun, denke ich. Mit der Überzeugung, Vergangenes würde stets hinter uns liegen. Dabei wird Vergangenes unter Umständen schneller wieder aktuell, als du „lineares Zeitverständnis“ sagen kannst.

Damit, nie anzukommen, muss ich mich noch abfinden.

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