Flüchtiges Europa
Die große Anzahl an Schutzsuchenden aus aller Welt stellt nicht nur die EU, sondern ganz Europa vor neue Herausforderungen. Bewähren kann sich die Interessens- und Wertegemeinschaft nur, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger durch gemeinsame Lösungen und Handlungswillen überzeugen.
(Dieser Beitrag ist ein Rückblick auf die Integrations-Debatte vom 28.2., weitere Infos siehe hier)
„Migration steht in Brüssel hoch auf der Agenda“, von ruhigen Zeiten könne nicht die Rede sein. Vor allem die Reform des Asylsystems und die Bekämpfung von Fluchtursachen, erklärt Elisabeth Kotthaus während der Debatte an diesem Februarmorgen in der Zentrale der FES in Berlin mit einer Ruhe, die bei diesem Thema wohl nicht mehr viele Leute aufbringen. Doch die stellvertretende Leiterin der deutschen Hauptstadtvertretung der EU-Kommission lässt sich nicht beirren. Sie weiß um die Dringlichkeit. Flucht und Migration sorgen mindestens seit 2013 für Schlagzeilen. Sie stellen das Thema, das wie kein anderes die EU herausfordert und spaltet. Das Schicksal Millionen von Menschen ist aus keiner politischen Agenda der Mitgliedsstaaten wegzudenken. Um sie drehen sich echte und von Rechtspopulisten erschaffene Sorgen.
Ist die Union unwillig oder unfähig?
Um die EU-Flüchtlingspolitik zu beurteilen, braucht Kotthaus‘ Diskurspartner, der europapolitische Sprecher Norbert Spinrath, nicht lange: Auf die Einstiegsfrage antwortet er im Brustton der Überzeugung, dass die EU auf einem Königsweg sei. Eine überraschend einfache Antwort auf eine schwierige Frage. Aber Spinrath ist nicht naiv. Er sieht, dass eine Einigung innerhalb der EU teilweise erfolgt ist. Die umstrittene Vereinbarung mit der Türkei, hebt er versöhnlich hervor, habe viele Menschenleben gerettet.
Trotzdem: Für viele Menschen verkörpert der Umgang mit den vermehrt auch in Europa Schutzsuchenden eher Unfähigkeit und Uneinigung der Union. Auch Spinrath sieht dies, und gibt zu, dass noch lange nicht alle Herausforderungen bewältigt wurden und auch Fehler eingestanden werden müssten.
Mitgliedsstaat ist nicht gleich Mitgliedsstaat
Ob gewollt oder nicht, prägen die beiden Referenten ein Bild von der EU so fragmentiert wie sie in Wirklichkeit ist. Nehmen wir zum Beispiel die unterschiedlichen Lebensstandards. Während das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands pro Kopf 2015 bei 37.100 € liegt, beläuft es sich in Bulgarien, Rumänien und Kroatien auf rund 6.000 -10.000 Euro. Und nur wenige südosteuropäische Länder verfügen über ein funktionierendes Sozialversicherungssystem.
Auch in Bezug auf den juristischen Kontext eines Asylverfahrens, findet sich ein Gefälle, wie etwa in der Anerkennung von Asylgründen. Zum Vergleich: Während derzeit in Deutschland fast allen Syrern und Irakern Asyl gewährt wird, haben in Italien1 zeitweise weniger als zwei Drittel der Syrer und in Norwegen2 weniger als ein Drittel der Iraker Bleibechancen gehabt.
Hier müsste eine europaweite Angleichung der Standards geschehen. Zu Recht wirft Kotthaus an dieser Stelle ein, dass dies eine Langzeitperspektive ist, die es zu erreichen gilt. Aber was bedeutet das? Wenn die Angleichung als Voraussetzung für eine gemeinsame Lösung gilt, so ist überhaupt keine Lösung zu erwarten. Lediglich beim Schutz der Außengrenzen und dem Ausbau der Kooperation mit nordafrikanischen Staaten ist man sich einig.
Bürger müssen sich einbringen können
Immer wieder weisen Kotthaus und Spinrath auf die beschränkten gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten der Union hin, da die Zuständigkeitsbereiche und –kompetenzen auf europäischer und nationaler Ebene getrennt werden müssen. Sie erklären, Strategiepläne seien zwar von Kommission und Parlament erarbeitet, die Umsetzung läge aber an den einzelnen Staaten; genauso wie die Bekämpfung der Fluchtursachen, das Asylrecht oder Einwanderungsgesetze.
Wirklich weiterführend ist diese Argumentation für den Zuhörer nicht. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen: Ist es Handlungsohnmacht, -(un)fähigkeit und Handlungswille, an dem ein gemeinsames Unterfangen scheitert? Wenn Europa überzeugen will, muss es sich gerade in Krisenzeiten bewähren und seine Bürger und Bürgerinnen durch gemeinsame erarbeitete und umfassende Lösungsvorschläge für sich gewinnen.
Wunschtraum oder Königsweg?
Hinkt die EU einem Wunschtraum hinterher, wie der Debatten-Titel suggeriert, oder befindet sie sich aller Steine zum Trotz doch auf einem Königsweg? Aktuell scheint dies nicht der Fall zu sein, der Optimismus der Referenten muss der Zukunft standhalten. Meine Frage, ob die EU bereit für das Maß an Diversität sei, das für ein Miteinander in einer globalisierten Welt nötig ist, kann Norbert Spinrath nicht bejahen. Er denkt an die Fehler, die Deutschland in seiner Integrationspolitik gemacht hat und zitiert den Max Frisch der 60er Jahre: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“. Es ist die soziale Dimension, von der Max Frisch spricht.
Genau hier setzt die Sozialdemokratie an, und könnte in Krisenzeiten ihr Potential bestätigen – in Europa wie in Deutschland. Migrations- und Flüchtlingspolitik spielt auch für die deutschen Wahlen im Herbst dieses Jahres eine tragende Rolle. Es gilt die Bürger zu überzeugen. Und machen zu lassen. Niemand kann sich der Verantwortung jetzt entziehen.
1https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2015/04/14/italien-schickt-syrien-fluechtlinge-ohne-kontrolle-nach-nord-europa/
2https://www.welt.de/politik/ausland/article157900496/Norwegen-will-die-Haelfte-der-Fluechtlinge-abschieben.html