Freiwilliges Engagement: Hilfe zur Selbsthilfe
Freiwilliges Engagement zeigt sich häufig in einer schillernden Form. Wer genauer hinschaut, muss jedoch erkennen, dass nicht alles, was glänzt, auch Gold(richtig) ist.
Rund 36 Prozent der Deutschen engagieren sich laut des aktuellen Freiwilligensurveys des Bundesfamilienministeriums regelmäßig freiwillig. Häufigster genannter Grund für das Engagement ist der Wunsch, die Gesellschaft im Kleinen mitzugestalten. Der im Alltag verwendete Begriff des „Ehrenamtes“ gilt als Oberbegriff jeglicher Formen des freiwilligen, gemeinwohlorientierten und unentgeltlichen Engagements.
Der Lohn der Freiwilligen ist, zugespitzt gesagt, deren „Ehrung“. Diese geschieht meist durch die anerkennenden, unterstützenden Worte anderer. Wissenschaftler greifen anstatt zum „Ehrenamt“ meist zum Terminus des Bundestages: „Bürgerschaftliches Engagement“ fasst politisches und soziales Engagement zusammen. Menschen mit sicherem Einkommen und hohem Bildungsgrad bilden die Mehrheit der freiwillig Engagierten.
Engagement als Bereicherung eigener Lebenserfahrungen
Auch Louis Gretz engagiert sich freiwillig. Anerkennung dafür spielt für ihn jedoch keine wichtige Rolle. „Ich glaube, ich besitze einfach einen hohen Gerechtigkeitssinn“, sagt der 30-Jährige. Schon seit er vierzehn Jahre alt ist engagiert er sich freiwillig. Am Anfang im Turn-, dann im Schwimmverein. „Da bin ich einfach so reingerutscht. In jungen Jahren ist einem gar nicht bewusst, dass man ehrenamtlich arbeitet.“ Später half er während seines Medizinstudiums bei einer Vereinsgründung mit. Der Verein versorgt Menschen ohne Papiere medizinisch. „Dabei konnte ich endlich meine Studienthemen mit etwas Sinnvollem und Praxisnahen verbinden“, sagt Gretz.
Trotzdem seien die vier Jahre, in denen er fast täglich dort gearbeitet habe, oft frustrierend gewesen. „Die Ungerechtigkeit, die so viele Menschen täglich in Deutschland erleben, trifft einen durch solch eine Arbeit mit voller Wucht“, so Gretz. Dennoch ist er geblieben. Nach zwei Jahren wurde er in den Vorstand gewählt, bald kümmerte er sich um den kompletten Verein. „Ich glaube, dass ehrenamtliches Arbeiten so eine Mischung aus ‚ich will die Anerkennung der anderen bekommen oder behalten’ und ‚die Arbeit will gerade niemand machen, dann muss ich das wohl tun’ ist. Ganz freiwillig geschieht das im Endeffekt häufig gar nicht.“
Eine 2015 veröffentlichte sozialwissenschaftliche Studie von Sandra Habeck von der Philipps-Universität Marburg zum Thema Freiwilligenengagement zeigt einen Wandel der Motivation zu freiwilligem Engagement auf. Gretz war es zum Beispiel wichtig, dass der Verein bei seinem Eintritt gerade in der Gründungsphase war und er ihn somit mitgestalten konnte. Auch Habeck geht davon aus, dass Begründungsmuster und Orientierungen für Engagement weniger mit Dienst- oder Pflichterfüllungen zusammenhängen, sondern mit „Erwartungen einer Bereicherung der eigenen Lebenserfahrung, einer Erweiterung der individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen sowie dem Wunsch nach Mitgestaltung“.
„Ehrenamt“ für den Lebenslauf
Auch können laut Studie Tendenzen zu einer Art „biografischen Passung“ bei der Übernahme eines Engagements festgestellt werden. Die freiwilligen Helfer entscheiden selbst, warum sie gerade dieses oder jenes Engagement für sich als wichtig ansehen und ausüben wollen. Der Engagementsurvey des Bundesfamilienministeriums bestätigt dies: Fast die Hälfte der Engagierten zwischen vierzehn und dreißig Jahren geben als Hauptmotivation den Wunsch nach dem Erwerb von zusätzlichen Qualifikationen an.
Ein Fünftel will laut Survey durch das Engagement auch beruflich weiterkommen. So auch die 24-jährige Politikstudentin Cristina Hogea. „Ich habe erst während des Studiums angefangen, unentgeltlich zu arbeiten. Der Grund ist, das muss ich ganz ehrlich sagen, dass ich das für meinen Lebenslauf brauche“, so Hogea. „Die großen Firmen erwarten heute, dass man sich ehrenamtlich engagiert. Ich bringe nun einmal pro Woche türkischen Kindern Lesen bei.“ Das ehrenamtliche Mitwirken helfe ihr persönlich sehr. „Es macht Spaß, den Kindern etwas beizubringen und zu sehen, wie sie dazulernen.“
Formen des „neuen Ehrenamtes“ wie zusätzlicher Qualifikationserwerb lösen jedoch nicht das „alte Ehrenamt“ ab, welches von einer reinen Hilfe oder Unterstützung für andere ausgeht. Vielmehr existieren beide Formen in der Gesellschaft und variieren von Person zu Person.
Freiwillig in den globalen Süden
Eine Form des freiwilligen Engagements, die als „neue“ Form mit häufig alten inhärenten Strukturen beschrieben werden kann, ist die institutionalisierte Form des Freiwilligendienstes. Vor allem bei Abiturienten ist der internationale Freiwilligendienst im globalen Süden wie Indien, Afrika und Lateinamerika beliebt. Ein Jahr arbeiten die jungen Erwachsenen an Projekten in Entwicklungsländern mit, meistens im Bereich der Bildung von Kindern und Jugendlichen.
Juliane Damen ist eine von ihnen. Nach ihrem Abitur im Mai 2011 entschied sie sich für einen internationalen Freiwilligendienst und ging mit der Organisation Wort des Lebens nach Kenia. „Ich wollte einfach mal richtig raus nach der Schule, Neues wagen und Abenteuer erleben. Aber meine Hauptmotivation war, ein Jahr lang Missionsarbeit zu betreiben, also ein Jahr lang nicht für mich zu arbeiten, sondern Gott zu dienen.“ Träger der Organisation ist der Ring Missionarischer Jugend, welcher finanziell durch das Bundesfamilienministerium gefördert wird. Juliane ist sich der negativen Besetzung allein schon des Terminus der Missionierung bewusst und sieht auch den Missionarismus, der durch Worte anderen Menschen eine Religion aufzwingt, kritisch.
Sie selbst versteht darunter, mit ihrem Leben Zeugnis zu geben. Dies habe sie hauptsächlich durch ihre Art und ihre Handlungen getan. Viele Kenianer fragten sie, warum sie kostenlos bei ihnen arbeite. „Erst dann habe ich ihnen über meinen Glauben als Motivation erzählt und somit den christlichen Glauben verbreitet.“ Als Aufzwingen sieht Juliane das nicht.
Die Freiwillige schreibt regelmäßig aus Kenia Rundbriefe, in denen sie betont, wie viel ihr das Jahr persönlich bringt. Kritik an ihrem Tun äußert sie in diesen nicht. Auch in ihrem Bekanntenkreis ist das nicht der Fall. Im Gegenteil: „Alle waren total begeistert und haben mich viel gefragt. Da muss man schon aufpassen, dass man sich nicht als etwas Besonderes fühlt“, sagt sie.
Internationaler Freiwilligendienst als Postkolonialismus?
Kristina Kontzi, Bildungsreferentin des Berliner Vereines glokal e.V., steht dem internationalen Freiwilligendienst kritisch gegenüber. Kontzi hat zu postkolonialen Perspektiven im Rahmen des Freiwilligendienstes weltwärts an der Universität Lüneburg promoviert. Auf den Freiwilligendienst weltwärts habe sie sich beschränkt, weil dieser beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung angesiedelt ist und somit entwicklungspolitisch relevant ist.
„Seit dem Kolonialismus herrscht eine Aufteilung der Welt, in der „wir“ immer an der Spitze stehen. Damals war das der weiße, bürgerliche, christliche Mann, heute sind das insbesondere bürgerliche, junge Frauen.“ Kontzi kritisiert das Aufrechthalten der Zweiteilung in „Wir“ und „Die“ durch das ständig vermittelte Bild des unschuldigen Lerndienstes oder der guten, weißen Helfenden in dem Partnerland.
Freiwilliges Engagement hat laut Kontzi in den vergangenen Jahren stark an Relevanz gewonnen. Auch im medialen Diskurs wird meist von der positiven Seite des Helfens berichtet. Dabei kommen meist nur die freiwillig Engagierten selbst oder Vertreter der jeweiligen Organisation zu Wort. Einheimische und „leise“ Stimmen erscheinen selten in den Berichten.
Der einseitige Diskurs wird schon nach einer kurzen Suche im Internet deutlich. Es gibt zahlreiche Blogs von Freiwilligen, die von ihren Erfahrungen in der „Dritten Welt“ berichten. Sätze wie „Um meine Klamotten muss ich mir hier eigentlich keine Gedanken machen, da wir Deutschen immer der Blickfang sind“ oder „Auf der Straße anzuhalten ist hier ein Tabu und alle fahren wie die letzten Chaoten“ unterstreichen eine Haltung der innerlichen Überlegenheit und kreieren beim Leser ein negatives Bild von den Einheimischen. Eine junge Deutsche, Nele, nennt Bolivien in ihrem Blog sogar in „Nelivien“ um und macht sich somit ein ganzes Land vermeintlich zu eigen.
„Rassistisches Denken ist in uns allen verankert“
Trotz Kritik ermutigt Juliane Damen junge Erwachsene zum Freiwilligendienst. „Es lohnt sich wirklich für die eigene Persönlichkeit. Nach der Schule ist man meist in einer Selbstfindungsphase – ein Auslandsjahr hilft enorm.“ Jedoch müsse man ihrer Meinung nach aufpassen: „Rassistisches Denken ist in uns allen verankert. Das können wir nicht bestreiten. Sich dessen schon mit 19 Jahren bewusst zu sein, ist schwierig.“
So wollte Damen zum Beispiel Kenianern zeigen, wie wichtig und gut es ist, individualistisch zu sein. Im Nachhinein habe sie aber gemerkt, dass dies in der kenianischen Kultur keine wichtige Rolle spielt, da die Menschen eher kollektivistisch geprägt seien. Auch sei sie mit der Ansicht des Hilfegebens nach Kenia gereist. „In unseren Köpfen taucht schnell ein gewisses Bild des armen Afrikaners auf, dem geholfen werden muss.“ Dieses Bild müsse sich jedoch ändern, da es nichts mit der Realität zu tun habe. Den Menschen in ihrem Umfeld in Kenia geht es gut, berichtet Damen. Hilfe von einer Freiwilligen bräuchten sie vielleicht gar nicht.
„Es muss auch ein Verstehen stattfinden“
Kristina Kontzi kritisiert am „Ehrenamt“ die ent- und bestehenden Machtverhältnisse, die in der Beziehung von Helfenden und Hilfeempfängern aufkommen. Trotzdem dürften die unterschiedlichen Formen des Ehrenamtes nicht über einen Kamm geschert werden. Wenn eine Freiwillige zum Beispiel bei der Müllabfuhr in der Heimatstadt mithelfe, setze sie sich nicht in eine Machtposition.
Bei den meisten ehrenamtlichen Tätigkeiten entstünden jedoch ungleiche Machtverhältnisse. Als Maßnahme gegen diese sieht Kontzi eine Aufklärung in der Schule als unentbehrlich ab. „Ich glaube, dass sich Strukturen und Bewusstsein in der Gesellschaft ändern müssen.“ Kontzi kritisiert die unzureichende Thematisierung der deutschen Kolonialgeschichte, welche die deutsche Gesellschaft bis heute prägt. „Erst seit wenigen Jahren wird in Deutschland darüber gesprochen, dass es hier Rassismus gibt.“ Jetzt müsse auch ein Verstehen stattfinden: Wie funktioniert Rassismus und wie wird er aufrechterhalten? Die Pegida-Bewegung führt vor Augen, dass noch viel Aufklärungsbedarf in Deutschland besteht.
Anmerkung: Auch in diesem Artikel äußert sich niemand, der Hilfe durch deutsche Freiwillige im Ausland erhalten hat. Wenn man nicht vor Ort ist, ist es schwierig, jemanden zu finden, der in keine Organisationsstrukturen eingebunden ist und somit „freier“ seine Meinung zur Arbeit der Freiwilligen äußern könnte. Stets wurde die Autorin an Vertreter weitergeleitet. Trotzdem soll der Artikel einen Anreiz zum kritischen Hinterfragen ehrenamtlicher Arbeit bieten.
Genau das ist das Problem – da fahren AbiturientInnen nach Afrika und denken, sie können dort etwas ändern. Doch den Menschen geht es gut dort und oft brauchen sie diese Art von Hilfe gar nicht. Kritisches Reflektieren fehlt dort vollkommen…
Danke für den Artikel! Endlich mal einer, der das ach-so-gute, alte Ehrenamt abstaubt!
Eine ganz andere Sichtweise über die bestimmt gut gemeinten ehrenamtlichen Aktivitäten vieler Jugendlicher.
Es ist wohl für viele eher eine Chance endlich einmal unbehütet Lebenserfahrungen zu sammeln.
Wenn es jemandem nützt ist es gut, wenn die Ehrenamtlichen diese Erfahrungen zuhause umsetzen (können), umso besser.
Guten Tag,
das ist in jedem Fall schon sehr mutig als junger Erwachsener in ein so fremdes Land zu gehen um den Menschen dort zu helfen. Das ist wirklich sehr inspirierend und bewundernswert. Aber es gibt ja auch hier in Deutschland verschieden Bundesfreiwilligendienst Stellen.
Der Beitrag zeigt meines Erachtens sehr gut auf, wie komplex das Thema ist: Einerseits gibt es bei uns in Deutschland genug zu tun für freiwillige Helfer. Andererseits erwarten Unis, Hochschulen und Arbeitgeber, dass die jungen Leute mal im Ausland gearbeitet und Erfahrungen gesammelt haben. Grundsätzlich finde ich es wichtig, dass junge Menschen (und nicht nur sie) die Heimat verlassen, um sich anderswo zu engagieren. Nur sollten das Konzept geändert werden. Warum fahren die jungen Leute überall hin, um zu „helfen“? Warum fahren sie nicht mit dem Anspruch dorthin, etwas zu lernen, sich bereichern zu lassen und um die eigenen Einstellung, bei uns in Deutschland wäre alles besser, in Frage zu stellen? Kultureller Austausch auf Augenhöhe und nicht, um sich höher zu stellen und dann besser zu fühlen!