Früher war alles… anders?!
Stadtkinder, die auf die 30 zugehen, ertappen sich bei dem Gedanken, ruhiger leben zu wollen. Früher wäre das für sie undenkbar gewesen. Und welches Fazit ziehen Ältere?
Einige romantisieren das Älterwerden. Sie stellen sich vor, alles, was sie jemals wollten und wovon sie träumten, an einem bestimmten Punkt im Leben erreicht und getan zu haben. Sie werden dann mit ihren liebsten Menschen – alle mit grauem Haar und verwittertem Gesicht – zufrieden beisammensitzen und über alte Zeiten plaudern. Herrlich!
Für andere hingegen ist die Vorstellung der absolute Horror und muss verdrängt oder geleugnet werden: jede Falte geglättet, jedes Wehwehchen sofort zum Verschwinden gebracht. So auch ein Kandidat, den ich mal auf einem Tinder-Date mit 21 Jahren kennenlernte. Er erzählte mir, er sei 27 Jahre alt, was sich einige Tage später als gelogen darstellte. Eigentlich war er 33. Er habe sich „einfach geschämt“. Für sechs Jahre! Das Alter: ein wunder Punkt auch für ihn. Die magische 30: eine Schranke, über die nicht jeder einfach so drüber (hinweg) kommt. Vielleicht wollte er nicht, dass ich mit meinen Anfang zwanzig ihn für zu alt halte und auf ein Date verzichte.
Doch nun ist es so, dass jeder Mensch, wenn es gut läuft, älter wird und Dinge sich damit verändern. Und auch ich, jetzt in meinen Spätzwanzigern, stelle fest, dass ich manches anders wahrnehme, bewerte oder fühle als noch vor einigen Jahren.
Ruhe wär‘ auch mal okay?
Ich wohne direkt an einer Hauptstraße in Mainz. Autos, nachts grölende Jugendliche – der „Puls der Stadt“ direkt vor der Haustür. Vor einigen Jahren habe ich ohne Wenn und Aber für das Stadtleben plädiert, liebte es, Menschen an jeder Ecke zu treffen und samstags im Getümmel zwischen Mainz 05-Fans und Marktfrühstückbesuchern mit Frühschoppen in der Hand unterzugehen.
Dann begann ich, damit zu liebäugeln, in einem Mainzer Vorort zu wohnen, wo es nicht ganz so anonym zugeht. Hatte ich das gerade wirklich gedacht?! Ich als überzeugter Stadtmensch: Vor Monaten wäre diese Einstellung noch undenkbar gewesen. Und was sind das für Veränderungen, die andere Mainzer an sich wahrnehmen?
Annelie, 74, fiel als Erstes die Veränderung beim Thema Liebe ein. Ihren Mann habe sie mit 22 Jahren auf der Mainzer Fastnacht kennengelernt. Damals sei sie frisch getrennt gewesen und gar nicht auf der Suche. „Und dann hat es mich doch einfach erwischt, mitten im Menschengetümmel.“ Mit dem Älterwerden habe ihre Beziehung verschiedene Phasen durchgestanden – gute und schlechte – und auch nach dem Tod ihres Mannes vor ein paar Jahren liebe sie ihn immer noch. „Mit dem Alter gewinnt man an Erfahrung“, sagt sie, „und da haben wir gelernt, uns besser zu verstehen und uns trotzdem weiter zu lieben.“ Ebenso sei ihr das Thema Familie immer wichtiger geworden. „Und am Körper drückt’s und zieht’s. Aber das muss ich jetzt ja nicht weiter ausführen.“
Drei Tage Kater und wenige gute Freunde
Mainzer Andi, 30, bemerkt die „ersten großen Hürden“, die er dieses Jahr überschritten hat. „Ich habe mittlerweile drei Tage lang einen Kater und kann auch nicht mehr jedes Wochenende feiern gehen“, lacht er. „Ich bin froh, wenn mal nichts am Wochenende ist und man einfach mal auf der Couch liegen kann.“ Von außen verspürt er den Einfluss durch andere, die ihn und seine Freundin „jetzt mit 30“ nach nächsten Schritten fragen: Hochzeit? Kinder? „Darüber habe ich früher nie besonders nachgedacht.“ Seine Freundeskreise seien kleiner, dafür die Freundschaften intensiver geworden. Heute weiß er: „Es ist besser, sich nicht so viele Gedanken darüber zu machen, was andere über einen denken. Früher wollte ich immer bei allen beliebt sein und in einem guten Licht dastehen – dabei denken die anderen meistens gar nicht so viel über einen wie man selbst“.
Ramona, 56, stellt immer wieder „mit Erschrecken“ fest, wie sie lachend gesteht, dass sie nun langsam auf die 60 zugehe. „Definitiv hat sich bei mir ganz viel verändert. Ich habe immer gern nebenberuflich Tanzkurse gegeben und musste das wegen einer Verletzung vor 13 Jahren sausen lassen.“ Vor allem belastet sie ihre private Situation: Ihrer Mutter geht es nicht gut, müsse zurzeit gepflegt werden, was sowohl psychisch als auch physisch eine Herausforderung für sie selbst darstelle, so Ramona. „Früher hat sie mich gepflegt und großgezogen, jetzt sind die Rollen vertauscht. Das ist zwar der Lauf des Lebens, aber doch heftig, wenn es einen selbst betrifft“, erzählt sie. „Dadurch ist mir bewusst geworden, wie wichtig Familie ist, und dass man mit den Liebsten Erinnerungen schafft. Denn das sind die Dinge, auf die man am Lebensende zurückblickt.“
Wenn die „gewählte Familie“ alles ist
„Mit dem Alter stelle ich fest, dass das Leben endlich ist“, sagt Sunhild, 54 Jahre alt. „Ich bin froh, in einer stabilen Beziehung zu leben, zwei wunderbare Töchter zu haben und Erzieherin zu sein. Das wollte ich schon mit elf werden.“ Früher habe sie oft gedacht, sie verpasse etwas, weil sie monogam lebe. Heute jedoch sei sie sehr zufrieden damit und schätze die Ruhe und Gelassenheit. Wenn Sunhild etwas nicht gefällt, sagt sie es direkt. Wert legt die aus dem rumänischen Siebenbürgen nach Deutschland eingewanderte Sunhild heute insbesondere auf Gerechtigkeit: Sie halte es nicht aus, einer Tochter etwas zu schenken und der anderen nicht, nur, weil diese weiter weg wohne. „Wichtig ist auch: Das Leben ist zu kurz für schlechten Sekt und Wein.“
„Verändert hat sich, wie ich auf Geschenke blicke“, sagt auch Emir, 69, und öffnet seine Einkaufstüten, die voller Lego, Plüschtiere und Rätselbücher für Kinder sind. „Geschenke gibt’s nur noch für meine Enkelkinder, dem Rest der Familie koche ich was. Das ist Tradition!“ Beim Weihnachtsfest seien auch viele seiner engen Freunde dabei, weil ihm im Laufe seines Lebens die „gewählte Familie“ mindestens genauso wichtig geworden sei wie die Blutsverwandten. „Diese Menschen sind alles für mich“, sagt er bestimmt. „Mit der Zeit wird die Anzahl wichtiger Menschen weniger, aber die Beziehungen dafür enger. Und manchmal kommen neue Menschen dazu, das ist super. Also: Verbringt viel Zeit mit denen, die ihr liebt!“
Für mich ist das Alter zwar kein wunder Punkt, trotzdem hab ich etwas Respekt vor der 30 dieses Jahr. 😂
Respekt ist allemal besser als Angst vor dem Altern. Ich werde nächtes Jahr 50 und habe dem Altern bislang viele Vorteile abgewonnen. Es gibt Verluste – klar -, aber diese werden durch neue Dinge und Erfahrungen aufgwogen.
Alter ist nur eine Zahl, man ist nur so alt, wie man sich fühlt und im Geiste bin ich eh für immer ein pupertierender Sonderling.
Ich mache das Beste daraus und stoße damit auf weit mehr Gleichgesinnte als Kontrahenten.
Interessant,diese Erfahrungen zu lesen.
Ich bin in meinen 60ern angekommen, merke das Alter natürlich, bin aber noch fit und lege Wert auf Bewegung. Familie und Freundr bedeuten mir nach wie vor sehr viel.
Allerdings, ich muss dazu bemerken, dass ich an meinen 30. Geburtstag dachte, jetzt ist alles vorbei, jetzt wird man alt.
Nachhinein sehe ich, dass mein Leben
erst danach so richtig losging.
Coole Interviews und spannende Eindrücke aus den verschiedenen Alterslagern – zum Glück ist 1990 erst 20 Jahre her und das Thema hat noch ein bisschen Zeit
Super gut geschriebener Artikel, auch mit einigen Aspekten die mir selbst nicht klar waren. Ich mache dieses Jahr das Viertel Jahrhundert voll und merke selber dass mich hin und wieder nach ein bisschen mehr Action sehe, vor allem da ich hier in meiner Stadt doch etwas weiter außerhalb wohne. Auf der anderen Seite bin ich auch mal froh wenn ich ein paar ruhige Momente habe, ich bin ein wandelnder Wiederspruch 😂