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Gegen das Gesetz – mit gutem Gewissen

Von Leonie Sontheimer / 24. August 2017
Lebenslaute Lizenz CC0

Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich freiwillig. Tierheime, Tafeln und Vereine könnten ohne ihren Einsatz nicht existieren. Manche brechen für eine gute Sache sogar das Gesetz.

Es dämmert noch, als an einem gewöhnlichen Arbeitstag im August 2016 Musikanten in schicker Konzertrobe vor allen vier Toren eines US-Militärstützpunktes in Stuttgart auftauchen. Schnell sind die Hocker und Notenständer ausgeklappt und die Instrumente ausgepackt, der Dirigent des Spontan-Ensembles hebt seine Arme zum ersten Ton.

Bevor Sicherheitsdienst und Polizei wissen, was geschieht, haben die Musikerinnen und Musiker des politischen Orchesters Lebenslaute alle Zufahrtsstraßen zum Militärstützpunkt blockiert. Seit 1986 engagieren sich bei Lebenslaute bundesweit Laien- und Profimusiker. Die offene Aktionsgruppe ist bekannt für ihre alljährlichen „Aktionen zivilen Ungehorsams“, die auf Missstände hinweisen und Diskussionen anregen sollen – mittels klassischer Musik.

An jenem Sommertag 2016 protestieren sie gegen den Drohnenkrieg. Das United States Africa Command (AFRICOM), welches sich auf dem Gelände des US-Militärstützpunktes befindet, ermittelt Drohnenziele auf dem afrikanischen Kontinent. Nach vier Stunden räumt die Polizei den Platz und trägt die Musikanten davon.

Ernst-Ludwig Iskenius spielt selbst kein Instrument. Der 64 Jahre alte Arzt aus Rostock kümmert sich um die Infrastruktur von Lebenslaute. Wie fühlt er sich bei einer Aktion zivilen Ungehorsams? „Es gibt zwei Gefühle. Erstens die Unsicherheit: Klappt es oder klappt es nicht? Und was sind die Folgen?“ Das zweite Gefühl sei „Empowerment“: „Meistens fühlen wir uns ohnmächtig gegen das Unrecht, das beispielsweise Drohnenkriege darstellen. Doch mit zivilem Ungehorsam kannst du dieser Ohnmacht persönlich etwas entgegensetzen. Das gibt dir ein Gefühl von Power.“ Dieses Gefühl sei ungemein wichtig für soziale Bewegungen, es halte sie am Leben.

Euphorie durch zivilen Ungehorsam

Wer einmal bei einer erfolgreichen Aktion zivilen Ungehorsams dabei war, kennt die Euphorie. Tatort Braunkohle-Tagebau: Plötzlich stehen die Bagger dort still, diese riesigen Maschinen. Weil eine kleine Gruppe von Menschen in weißen Anzügen in die Grube gelangt ist. Sie hat ein kleines Zahnrad zum Stehen gebracht in der systematischen Umweltzerstörung, die sonst unaufhaltsam scheint. Seit 2015 finden unter dem Namen Ende Gelände solche Aktionen gegen den Abbau und die Verbrennung von Kohle in Deutschland statt. Sie pumpen Leben in die Anti-Kohle-Bewegung und geben ihr mediale Aufmerksamkeit.

Auch die Proteste gegen G20 im Juli in Hamburg waren als ziviler Ungehorsam angekündigt. Dort kam es zwar auch zu mutwilligen Verwüstungen. Die meisten Demonstranten waren an diesen Ausschreitungen aber nicht aktiv beteiligt. Sie haben friedlichen und kreativen Protest geübt und zivilen Ungehorsam geleistet, indem sie sich dem Demonstrationsverbot widersetzt haben. Nicht, um Hamburg zu verwüsten, sondern um deutlich zu zeigen, dass sie nicht einverstanden sind mit dem Gipfeltreffen.

Niemand darf zu Schaden kommen

Wer zivilen Ungehorsam begeht, verstößt gegen geltendes Recht und nimmt die juristischen Konsequenzen in Kauf. „Ziviler Ungehorsam richtet sich gegen ein Unrecht, das in der Gesellschaft besteht. Es ist eine von vielen möglichen Aktionsformen, um auf Missstände aufmerksam zu machen“, sagt Iskenius von Lebenslaute.

Eine musikalische Menschenblockade wie die in Stuttgart vor einem Jahr ist laut Iskenius ziviler Ungehorsam auf Einstiegsniveau. „Da haben wir gegen das Versammlungsgesetz verstoßen, weil wir uns nicht als Versammlung angemeldet haben.“ Die Blockade könne unter Umständen auch als Nötigung bewertet werden, doch das müsse gerichtlich geklärt werden und sei im Fall von Lebenslaute unwahrscheinlich. Auch Hausfriedensbruch ist eine Straftat, die bei Aktionen von Lebenslaute oder Ende Gelände häufig riskiert werde, so geschehen 2015 in den Tagebauen Garzweiler und Hambach im Rheinland. Iskenius selbst ist es wichtig, dass bei seinen Aktionen keine Menschen zu Schaden kommen.

Nicht legal, aber legitim

Sie wollen nur spielen. Aber nicht bloß zum Spaß. (Foto: Lebenslaute)

Ziviler Ungehorsam als solcher ist im deutschen Recht weder eine Ordnungswidrigkeit noch ein Straftatbestand. Oft werden Delikte wie Hausfriedensbruch oder Sachbeschädigung gar milder bestraft, wenn sie im Rahmen von zivilem Ungehorsam entstanden sind. Schließlich sind nach Paragraph 46 des Strafgesetzbuches Beweggründe, Ziele und Gesinnung in der Strafzumessung zu berücksichtigen. Und wer mit zivilem Ungehorsam gegen das Gesetz verstößt, handelt für sein gutes Gewissen – so eine Möglichkeit der Auslegung.

Die Motivation hinter zivilem Ungehorsam ist moralisch. Für Lebenslaute ist es der Frieden, den sie fördern wollen und den sie durch Praktiken des US-Militärs und der Bundeswehr bedroht sehen. Für Ende Gelände ist es der Klimawandel, den sie aufhalten möchten. Die G20-Gegner wenden sich gegen globale Ungerechtigkeit. Die Bewegungen verbindet der Drang, öffentlichkeitswirksam auf bestehendes Unrecht hinzuweisen. Es geht ihnen um viel mehr als um private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen. Solange ziviler Ungehorsam gewaltfrei ausgeführt wird, ist er eine legitime (wenn auch nicht legale) und dringende Art von Engagement, um die Rechte von Menschen und Natur innerhalb der bestehenden Ordnung zu bewahren.

Das Orchester Lebenslaute plant in diesem Sommer eine Aktion gegen den Fliegerhorst Jagel in Schleswig-Holstein. Unter dem Motto „Von Bass bis Sopran – gemeinsam gegen Rüstungswahn“ werden die Musiker am 21. August zivilen Ungehorsam gegen den Militärflughafen leisten – mit Händel und Beethoven. Wie genau die Aktion aussehen wird, werden die Aktivisten erst vor Ort basisdemokratisch entscheiden, wobei die Bedenken und Bedürfnisse aller berücksichtigt werden. Auch das zeichnet zivilen Ungehorsam für Ernst-Ludwig Iskenius aus: „Jeder Einzelne muss für sich entscheiden, wie weit er geht.“

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