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Gott spielen oder sterben

Von Yves Bellinghausen / 8. Januar 2020
picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Elaine Thompson

Im Gesundheitswesen kündigen sich bahnbrechende Entwicklungen an. Pessimisten warnen jedoch lautstark, Menschen würden Gott spielen. Aber taten wir das nicht immer schon?

Als es chinesischen Wissenschaftlern Ende 2018 eigenen Angaben zufolge gelang, mithilfe eines die DNA verändernden Mechanismus namens Crispr/Cas9 (geläufiger: die sogenannte Genschere) einer gesunden Frau genetisch veränderte Embryonen einzusetzen, um diese gegen HI-Viren (vom Partner bzw. künftigen Vater) zu immunisieren, sahen westliche – vor allem deutsche – Kulturpessimisten mal wieder die Schöpfung bedroht. Von „Designer-Babys“ war bei den anschließend geborenen Zwillingsmädchen die Rede. Dabei übersehen damals wie heute viele Kritiker, dass die Genschere im Grunde nur das neueste und bislang raffinierteste Werkzeug ist, unsere Körper gegen die Widrigkeiten des Lebens zu schützen.

Schon 1714 versuchten Mediziner in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, mit Impfungen die tödlichen Pocken unschädlich zu machen, indem sie Patienten absichtlich mit dem Virus infizierten, um sie gegen ihn immun zu machen – die Grundidee des Impfens. Damals standen viele Leute dieser medizinischen Revolution skeptisch gegenüber. Immanuel Kant, der in seiner „Metaphysik der Sitten“ die Selbsttötung als ethisch verboten darstellt, beklagte, dass, wer sich impfen lasse, sein Leben riskiere, und fragte: „Ist also die Pockeninoculation erlaubt?“ Der deutsche Philosoph relativierte im Laufe seines Lebens seine skeptische Haltung. Inzwischen gehört Impfen zum Standard der Gesundheitsversorgung.

In Bezug auf verändertes Erbgut stehen wir ganz am Anfang. Noch immer ist das erfolgreiche Gentechnikverfahren mehr Behauptung als Beweis, weil ein unabhängiger wissenschaftlicher Nachweis fehlt. Aber wenn es Wissenschaftlern einige hundert Jahre nach Kant möglich ist, Menschen gegen einen der tödlichsten Viren unserer Tage zu immunisieren – warum sollten wir darauf verzichten? Offenkundig neigen wir dazu, Neues zu pathologisieren und vor lauter Bedenken und Furcht blind zu sein für nützliche Errungenschaften. Das soll nicht heißen, dass die Genschere ausschließlich zu bejubeln ist: Ihr unkritischer Einsatz könnte schließlich in eine dystopische Welt münden, in der sich wohlhabende Menschen die schönsten und klügsten Nachkommen heranzüchten, während die Armen von genetischem Babyglück nur träumen können.

Nicht die Methode ist das Problem, sondern ihr Sinn und Zweck

Um über Fluch oder Segen der Genschere entscheiden zu können, müssen zwei Arten ihrer Anwendung unterschieden werden: eine medizinische zur Verhinderung von Krankheiten und eine ästhetisch/ kognitiv begründete zur Optimierung (schöner! klüger!) eines gesunden Menschen. Während letzteres hochproblematisch ist – „Gen-Doping“ –, scheint die Nutzung von Genscheren zu medizinischen Zwecken doch eigentlich nur die Fortsetzung unseres Jahrtausende alten Kampfes gegen Krankheit und Leid mit modernsten Mitteln zu sein. Und genau wie in vormodernen Zeiten ist es für die überwiegende Mehrheit von uns dabei völlig unbegreiflich, wie diese neuen, hochkomplexen Technologien funktionieren. Auch das hält viele von uns davon ab, sie zu beanspruchen oder einzufordern. (Nur weil der Mensch es als einziger Erdbewohner mit ein paar Astronauten ins All geschafft hat, sind daraus bisher noch keine Touristenmassen erwachsen.)

Der Mensch, ein gnädigerer Gott?

Die Versprechungen der Health-Technology stoßen möglicherweise auf mehr Interesse, geschenkt. Wenn auch sie selbst immer ungeheuerlicher scheinen: Israelischen Forschern ist es kürzlich gelungen, ein Herz aus menschlichen Zellen im 3D-Drucker herzustellen. Diese Methode verspricht, Organspenden gänzlich überflüssig zu machen. In Zukunft könnten wir einfach jedes Organ austauschen, wenn es zu versagen droht. Fitnessarmbänder wiederum versprechen, unseren Organismus dauerhaft ideal zu überwachen und Krankheiten vorauszusagen. Und wie üblich kommen die allerkühnsten Erzählungen aus dem Silicon Valley, wo Forscher sich anschicken, den Traum vom ewigen Leben verwirklichen zu wollen. Dass Unternehmen wie Verily (früher: Google Life Sciences, das ebenso Tochterunternehmen von Alphabet ist wie Google selbst) und Facebook Milliarden in die Entwicklung derartiger Technologien investieren, zeigt, dass die Forscher hinter den beschriebenen Experimenten in der Tech-Welt durchaus ernst genommen und eben darum finanziert werden.

„Jetzt spielt der Mensch Gott!“, heißt es wieder, aber spielten wir nicht bereits Gott, als die Polio-Impfung erfunden wurde, auf die heute niemand mehr verzichten würde? Und wenn man so recht darüber nachdenkt: Ist es denn nicht auch ein wenig erstrebenswert, gottgleich zu agieren, wenn schon der angeblich so gute, liebende Gott selbst sich nicht erbarmt, uns vor Polio und Aids zu schützen? Ja, kann man einer Tochter, deren Vater HIV-infiziert ist, wirklich ohne Scham erklären, dass auch sie sich mit HIV infizieren muss, obwohl die Genschere sie hätte immunisieren können, was aber nicht geschah, weil das nicht zur gesellschaftlichen Vorstellung von göttlicher Schöpfung passt?

Der heute 35 Jahre alte, chinesische Wissenschaftler He Jiankui, der die Zwillingsmädchen gegen das HI-Virus immunisiert hat, wurde von chinesischen Behörden unterdessen zu drei Jahren Haft und einer Strafzahlung von umgerechnet rund 380.000 Euro verurteilt, wie vor einigen Tagen publik wurde. Wegen „illegaler medizinischer Methoden“, wie Nachrichtenagenturen berichten. In den nächsten Jahrzehnten werden wir uns viele unangenehme Fragen stellen müssen, die es zu diskutieren gilt, denn die Möglichkeiten der Medizin verleihen uns bisher undenkbare Fähigkeiten. Aber war das nicht sowieso schon immer der Anspruch von Medizinern, den sogenannten Halbgöttern in Weiß?

2 Antworten auf „Gott spielen oder sterben“

  1. Von Anika am 11. Februar 2020

    Ich möchte mich auch gerne zu diesem Thema äußern. Vor allem spreche ich über Impfungen. Ja, wirklich, damals war man skeptisch, aber heute stellt sich fast keiner ein Leben ohne Impfungen. Sie sind ein Teil unseres Lebens und man versucht Impfungen gegen alle Krankheiten zu finden. Wir entwickeln uns jeden Tag, nicht nur uns selbst, sondern es entwickeln sich alle Branchen des Lebens. Besonders heute sind die Fragen, wie Umweltschutz und Gesundheit sehr populär. Wir denken an unsere Zukunft, an das, welche Luft wir einatmen. In dem Bereich wurde schon auch eine Lösung gefunden. Schauen Sie unbedingt hier nach, wir bleiben nicht stehen. Jeder soll an seinem Platz die Arbeit gut machen und nicht nur an sich selbst denken. Dann können wir doch was Gutes gemeinsam schaffen!

    1. Von sagwas-Redaktion am 12. Februar 2020

      Liebe Anika, vielen Dank für deinen interessanten Kommentar! Leider funktioniert die Verlinkung in deinem Kommentar nicht. Magst du sie mal prüfen, denn wir sind neugierig geworden. Viele Grüße aus der sagwas-Redaktion

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