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Grenzenlos überfordert

Von Annika Derichs / 23. Oktober 2024
picture alliance / empics | Yui Mok

Manchmal ist es gar nicht so einfach zu wissen, was man eigentlich will. Egal wo man gerade ist, nahezu überall in unseren Breitengraden herrscht Überfluss und ständig müssen wir uns entscheiden. Ist diese Freiheit Fluch oder Segen? Und: Kann jede*r diese Freiheit nutzen?

“Was willst du mal werden?” Seit ich denken kann, werde ich mit dieser Frage konfrontiert. Spätestens nach dem Abitur wurde es ernst. Es galt, sich zwischen all den potentiellen Möglichkeiten zu entscheiden. Alleine die Frage vermittelt den Eindruck, als stünde einem die Welt offen und dennoch bin ich planlos. Bei all den scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten ist Überforderung vorprogrammiert. Doch nicht nur mir geht es so. Neulich bemerkte eine Freundin: “Jeder versucht, zu rudern und sich über Wasser zu halten. Jeder ist lost, aber niemand gibt es zu”. Gerade in den 20ern und als Teil der sozialen Mittelschicht wird es immer mehr zu einer Herausforderung, seinen Platz im Leben zu finden. Ja, uns steht die Welt offen. Aber in einem Meer aus Möglichkeiten und Privilegien ist es schwer, sich zu orientieren und auf das zu fokussieren, was wirklich zählt.

Doch diese überbordende Vielfalt ist für mich und meine Freunde nicht nur auf den Berufsweg begrenzt. Ständig müssen wir uns für oder gegen etwas entscheiden, und selbst kleinste Entscheidungen haben irgendwo in der Welt Konsequenzen – eine Riesenverantwortung. Was will ich heute essen, asiatisch oder italienisch, biologische oder konventionelle Zutaten? Was ziehe ich heute an, lieber die Jeans vom Flohmarkt oder doch die brandneue Fast Fashion Hose? Mit dieser Freiheit einhergeht die bewusste Auseinandersetzung etwa mit der Ausbeutung im Fast Fashion Bereich oder dem mit vielen Tierprodukten verbundenen Tierleid.

„Jeder ist lost, aber niemand gibt es zu“

Überhaupt: Shopping. Dank Amazon, Zalando, About You oder Temu ist jedes Produkt nur einen Mausklick entfernt und kann innerhalb weniger Tage im Briefkasten landen. Aber birgt diese Bequemlichkeit nicht große Schäden für die Umwelt? Und werden damit nicht Menschen im Niedriglohnsektor ausgebeutet?
Dieses Gefühl, dass an den eigenen, alltäglichen Kaufentscheidungen ein ganzer Rattenschwanz an globalen Problemen hängt, das war nicht immer so.  Schuld hat, so könnte man sagen, die Globalisierung.

Im späten 18. Jahrhundert kam es zur industriellen Revolution. Fabriken wurden gebaut, Dampfmaschinen in Betrieb genommen und Eisenbahnen auf die Schiene gebracht. Der Transport von Waren aller Art wurde begünstigt, sodass der Welthandel enorm wuchs und internationale Beziehungen enger geknüpft wurden. Der Unterschied zwischen tendenziell ärmeren und eher reichen Ländern auf der anderen Seite wurde erstmals durch die Industrialisierung sehr groß. Seit den 1980er Jahren befinden wir uns in der sogenannten Hyperglobalisierung. Internet und Smartphone lassen uns so schnell wie noch nie kommunizieren. Wir konsumieren dank Sozialer Medien nicht mehr nur Materielles pausenlos. Nachrichten, Trends, aber auch Fake News verbreiten sich auf sämtlichen Kanälen wie ein Lauffeuer.

Immer noch eine Frage des Milieus

Wo man auch hinschaut, grundsätzlich haben wir heutzutage wesentlich mehr Freiheiten, als noch unsere Eltern und Großeltern sie hatten. Als ich zum Studieren in die Großstadt zog, merkten meine Großeltern an, dass sie in meinem Alter allein diese Möglichkeit nicht gehabt hätten. Studieren war für sie, die aus einfachen Verhältnissen stammen, einfach keine Option. Abitur war zu ihrer Zeit ohnehin eher Ausnahme als Regel. Nach der Schule schloss der Großteil meiner Familie eine Ausbildung ab und arbeitete bis zur Rente in ein und demselben Unternehmen. Heute ist selbst eine akademische Laufbahn, mit guten Noten und (familiärer) Unterstützung, nur eine von unzähligen Möglichkeiten, seine Zukunft selbstbestimmt zu gestalten. Das ist ein großes Privileg, dessen wir uns jederzeit bewusst werden sollten, selbst in Deutschland.

Zu einer Selbstverständlichkeit ist Studieren trotzdem nicht geworden, auch nicht in eine große Stadt zu ziehen oder eine Weltreise zu machen.

Grundsätzlich besteht heute eine riesige Palette an Freiheiten, liegt zum Greifen nah, aber nicht jede*r kann und soll diese nutzen – sie bleibt auch 2024 eine Frage des Milieus. Privilegien werden weiterhin unterschiedlich verteilt, beispielsweise zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten, bei Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund und je nach finanzieller Situation. Die Spanne zwischen arm und reich spielt dabei eine tragende Rolle, denke ich.

Privilegien hinterfragen

Obwohl ich im Alltag oft überfordert bin, muss ich mich regelmäßig daran erinnern, nicht zu vergessen, dass auch meine Freiheiten auf ein großes Privileg zurückzuführen sind, zu dem nicht alle Menschen Zugang haben, selbst hierzulande nicht. Zwar weiß ich manchmal gar nicht recht, was ich mit dieser gefühlten großen Freiheit anstellen will. Doch während ich in meinem Zimmer hocke und nicht weiß, was ich nach meinem Studium machen möchte, dürfen Frauen in Afghanistan nicht aktiv am öffentlichen Leben teilnehmen oder die Universität besuchen. Vielleicht ist es auch schwierig, diese grundverschiedenen Lebensrealitäten zu vergleichen. Doch es bleibt wichtig, mir meiner Privilegien bewusst zu werden. Vielleicht sollte ich versuchen, genau diese manchmal überwältigende Freiheit in erster Linie dafür zu nutzen, um die Welt ein Stückchen besser zu machen.

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