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Heimweh kann viele Formen haben

Von Johanna Warszawa / 24. Juli 2024
picture alliance / Westend61 | Oleksandra Troian

Heimat – das ist nicht nur ein Ort. Der Begriff ist verbunden mit Gefühlen. Mit Wohlbefinden, Zugehörigkeit und Vertrautheit. Wer sich danach sehnt, romantisiert nichts, sondern weiß um den Schmerz, wenn die Heimat nicht nur geografisch hinter einem liegt.

An einem Donnerstagvormittag sitze ich an einem großen, weißen Plastiktisch. Um mich herum circa zehn Seniorinnen aus der Ukraine, die mich etwas verschüchtert, aber auch neugierig anschauen. Sie alle sind vor dem Krieg in ihrer Heimat geflohen, kommen aus Charkiw, Kyjiw  und Mariupol und können kaum Deutsch. Neben mir sitzt Nataliia Chyhrina. Auch sie kommt aus Charkiw und war in der Ukraine Psychotherapeutin und Deutschlehrerin. Hier in Deutschland leitetet sie ein Sprachcafé für ukrainische Senioren und ich bin heute mit dabei.

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde ergreift Nataliia das Wort. „Stell deine erste Frage, Johanna.“ Und das tue ich. Ich stelle an diesem Vormittag nicht nur eine Frage, sondern viele. So viele bis mir keine mehr einfallen und so viele, dass Nataliia zu mir sagt, das sei fast schon wie Therapie.

Die ungeplante Therapie fängt an mit dem Begriff Heimat. Eine Frau aus Mariupol ergreift als erste das Wort. Sie sitzt mir gegenüber. „Ich denke immer an meine Heimat“, sagt sie. „Ich vermisse die ukrainische Muttersprache. Ich vermisse die ukrainische Umgebung. Ich vermisse meine Freunde, meine Familie“, sagt sie. Sie spricht stockend, konzentriert sich auf ihre Wörter und ich meine, plötzlich Tränen in ihren Augen zu erkennen. Die nächste Teilnehmerin weint dann tatsächlich: „Ich hasse diejenigen, die diesen Krieg begonnen haben.“ Nataliia dreht sich zu mir um. Ihre Miene ist ernst. „Dieser Krieg lässt sie solche Wörter sagen.“

Warten auf einen Termin

Bereits in den ersten Minuten wird klar, diese Frauen haben Heimweh. Starkes Heimweh. Denn hier in Deutschland ist vieles anders. Darin, was anders ist, sind sich alle einig: die Bürokratie. Man brauche so lange, um einen Arzttermin zu bekommen, sagen die Senioren. „Es gibt zwei wichtige Worte in Deutschland: Warten und Termin“, lacht Nataliia. Ich muss auch lachen. Ja, das Warten auf einen Arzttermin nervt manchmal.

Das Sprachcafé wird von dem Düsseldorfer Verein Flüchtlinge Willkommen angeboten. „Die Senioren haben einen besonderen Bedarf für diese Sprachcafés“, erzählt mir Christoph Wilden vom Verein. Da sie nicht arbeiten, bekommen sie vom Jobcenter auch keinen Deutschkurs gestellt. Beim Sprachcafé lernen die Senioren aber nicht nur die deutsche Sprache, lerne ich. „Ich habe realisiert, dass das auch einen geselligen Aspekt bedeutet“, sagt Wilden. Viele Senioren haben Haus, Heimat und Familie hinter sich gelassen und sind alleine nach Deutschland gekommen. Das Sprachcafé hilft den Frauen, mit dieser Situation umzugehen. Es schafft eine kleine ukrainische Umgebung mitten in Düsseldorf. Denn hier gibt es keine Bürokratie, kein langes Warten auf einen Arzttermin. „Hier können sie sich erholen und in einer anderen Situation sein“, erzählt Nataliia.

Es wird viel Kaffee getrunken. Dass ich keinen Kaffee trinke, erstaunt die Runde. „Kaffee ist so lecker“, lacht Nataliia. Stattdessen bekomme ich einen Tee und die Frauen erzählen, dass sie das ukrainische Essen vermissen. Sie erzählen mir von der ukrainischen Suppe Borschtsch. „Was ist da alles drin?“, fragt Nataliia. „Kohl“, antwortet eine. „Zwiebeln und rote Bete“, ergänzt die andere. Am Ende sind sich alle einig, dass sie sich mal treffen und gemeinsam ukrainisch kochen sollten. Und dann komme auch ich in den Genuss der ukrainischen Küche. Eine Teilnehmerin hat ukrainisches Gebäck mitgebracht. Es ist ein kleiner Krapfen, gefüllt mit Vanillecreme und schmeckt „Duze smatschno!“ Also „sehr lecker“, höre ich mich sagen.

Es kann alle treffen

Während ich das Gebäck esse, muss ich daran denken, dass auch ich Heimweh kenne. Eigentlich war das sogar ein Thema, das sich durch meine ganze Kindheit und frühe Jugend gezogen hat. Fast immer, wenn meine Eltern nicht bei mir waren, hatte ich sowas wie Heimweh. Genauso wenig wie „Heimat“ begrenzt es sich nicht auf einen Geburtsort oder ein Herkunftsland. Ich erinnere mich noch gut an die Klassenfahrt in der sechsten Klasse. Ich habe fast jeden Abend geweint, mich zurückgezogen, mein Buch gelesen und darauf gewartet, dass ich wieder nach Hause darf. Also dorthin, wo meine Eltern waren. Es gab sogar eine Zeit, da überkam mich das Gefühl von Heimweh selbst dann, wenn ich für nur eine Nacht bei meiner besten Freundin übernachtet habe.

Ich will nicht mein Sorte Heimweh mit dem von den Senioren aus der Ukraine gleichsetzen. Ich bin schließlich nicht vor Krieg geflohen und habe nicht mein Zuhause verloren. Ich war einfach nur ein schüchternes Kind, das seine Eltern vermisste. Trotzdem habe ich bei meinem Besuch im Sprachcafé gemerkt, dass Heimweh ein Gefühl ist, das alle Menschen unterschiedlichen Alters treffen kann. Egal, ob ein Kind, das auf Klassenfahrt weinend seine Mutter anruft oder Geflüchtete, die ihre Heimat vermissen. Es fehlt etwas, und das schmerzt.

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