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Hilferufe oder die Sache mit der Therapie

Von Antonia Luigs / 17. April 2024
picture alliance / Westend61 | Ignacio Ferrándiz Roig

Fast jedem Menschen fällt es schwer, offen über die eigenen Gefühle zu sprechen. Vor allem mit fremden Menschen. Bloß wieso? In diesem Text geht es um Therapie, fremde Zuhörende und warum es okay ist, eine Therapie zu machen. Und sogar darüber zu reden.

„What’s the bravest thing you’ve ever said“, asked the boy. „Help“, said the horse. „Asking for help isn’t giving up. It’s refusing to give up.“

Aus: The boy, the mole, the fox and the horse, Charlie Mackesy (2019)

„Es geht mir gut“ ist die mit Abstand am häufigsten verwendete Lüge. Vielleicht, weil immer alles gut sein soll. Wie aber fragt man dann nach Hilfe, wenn mal nicht alles gut ist? Wenn nicht alles nach Plan läuft? Es erfordert Mut, in einer scheinbar permanent gut gelaunten Leistungsgesellschaft, wo immer alles zumindest „okay“ ist, aufzustehen und zu sagen „Hallooo, ist da wer?! Mir geht’s nicht gut! Kann mir bitte jemand helfen?“

Besonders kompliziert wird es dann, wenn man das Problem, von dem die Rede sein soll, gar nicht auf den ersten Blick sieht. Und falls doch, so scheint es, muss man sich dafür rechtfertigen. Genau, ich spreche von psychischen Problemen.

Wie fragt man nach Hilfe?

Ich habe lange gebraucht, bis ich mich getraut habe, mit jemandem offen über meine Probleme zu sprechen. Es war im Unterricht. Ich war 16 und meine psychische Verfassung war (vorsichtig ausgedrückt) sehr schlecht. Ärzte hatten sich an mir dumm und dämlich diagnostiziert und ich war der festen Überzeugung, dass niemand auf der ganzen Welt mir mehr helfen könnte. Ich saß da und hatte keine Ahnung, was da vorne abging. Irgendwann war die Stunde vorbei und während alle aufstanden und aus dem Raum strömten, muss ich sitzen geblieben sein. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wieso ich das gemacht habe, aber ein Gedanke traf mich wie ein Schlag: „Wenn du jetzt nicht sprichst, stirbst du!“

Meine Lehrerin fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Ich weiß, ehrlich gesagt, auch hier nicht mehr genau, was ich ihr geantwortet habe. Aber zwei Wochen später hatte ich einen Notfalltherapieplatz. Die ganze Sache brachte eine Lawine ins Rollen, in der ich mich ständig fragte, warum ich nicht einfach die Klappe gehalten hatte. Meine Eltern wurden informiert, alle Lehrkräfte wussten plötzlich, was los war, und ich musste ständig früher aus dem Unterricht, weil ich vormittags Therapie hatte. In diesen Momenten habe ich mich so sehr nach Gedichtanalysen und Völkerball gesehnt!

Was passiert in der Therapie?

Viele wissen nicht, was eine Therapiesitzung ist, wie das dort aussieht. Ich auch nicht. Liegt man wirklich auf der Couch? Kann man sich aussuchen, wer einem zuhören darf und helfen soll? Eine therapeutische Behandlung beginnt mit zwei bis sechs sogenannten probatorischen Sitzungen. In diesen Therapiestunden lernen Patient und Therapeutin sich kennen. Dann kann der Patient entscheiden, ob er die Therapie anfangen möchte. Es ist nicht falsch zu sagen, wenn es nicht passt. Die ersten Sitzungen sind so ein „Rundumcheck“. Man bekommt Fragen gestellt und meistens füllt man alle möglichen Fragebögen aus, die anschließend in den Sitzungen besprochen werden. Danach wird eine Erstdiagnose aufgestellt.

Viele Leute empfinden diesen Moment extrem unterschiedlich. Es kann erschreckend sein, schwarz auf weiß zu sehen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich weiß noch genau, wie es mir ging, als ich meine Diagnose bekommen habe. Ich war erleichtert, weil da endlich etwas stand, worin ich mich wiedererkannte. Es gab mir das Gefühl, dass das Problem jetzt einen Namen hatte. Und das ist die Grundlage zur Lösung.

Auch die Therapiestunden an sich können super unterschiedlich ausfallen. Es ist nicht verboten, mal keinen Bock zu haben, zu einer bestimmten Zeit über ganz eigene Probleme zu reden. Dann geht es eben um etwas anderes. Als Patient hat man einen großen Einfluss auf die Themen und den Verlauf der Begegnung. Im ersten Moment wirkt es befremdlich mit einer ubekannten Person über private, sensible und teilweise traumatische Themen zu sprechen. Andererseits kann es befreiend sein, dass die Person, der man da gegenübersitzt, nichts mit einem selbst zu tun hat. Anders gesagt: Ihr seid nicht verwandt oder befreundet und man muss sich keine Gedanken über deren Gefühle machen, wenn man über Dinge spricht, die einen selbst bewegen.

Wichtig im Hinterkopf zu behalten ist, dass Therapieplätze schwer zu finden sind. Alternativ herangezogen werden dann andere Hilfsangebote, wie zum Beispiel spezielle Beratungsstellen. Diese sind oft anonym und kostenlos, aber eben nicht langfristig angelegt. Auch die Telefonseelsorge spielt eine wichtige Rolle. Oder Chatangebote wie Krisenchat, ein Beratungsangebot, an das sich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, über die Website oder WhatsApp wenden können, um Kontakt zu professionellen Beratern aufzunehmen.

Und dann?

Ich will niemandem Illusionen machen. Sich mit seinen schlimmsten Problemen auseinanderzusetzen ist knallhart. Eine Therapie holt verdrängte Erinnerungen und Emotionen hervor. Das ist eine Herausforderung. Es macht nicht „Schnips“ und alles wird wieder gut.

Die Zeit nach meinem Therapiebeginn war einfach nur scheiße. Doch ich lernte, mit mir selbst und meiner Krankheit umzugehen. Zwar viel langsamer, als ich mir das vorstellt hatte, und es kommen immer noch manchmal schlechte Phasen. Aber es wird besser. Die ganze Tortur aus Erklärungen und Rechtfertigungen und Scham, weil man ja angeblich schwach sei, zahlt sich irgendwann aus. Mit gebrochenem Arm geht man schließlich auch zum Arzt.  

Also, lasst euch von niemandem erzählen, dass ihr schwach seid. Im Gegenteil, ihr seid stark, weil ihr euch euren Problemen stellt. Dir, der Person, die das gerade liest, wünsche ich, dass du gewinnst – egal womit du gerade kämpfst!  

Eine Antwort zu “Hilferufe oder die Sache mit der Therapie”

  1. Von Tom am 17. April 2024

    Sehr mutig und gut geschrieben!

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