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Hirn oder Handy? Das Dilemma der Digitalisierung

Von Daniel Lehmann / 22. Mai 2024
picture alliance / Westend61 | Bonninstudio

Das Internet in all seinen Facetten gehört zu den großen, umwälzenden Entwicklungen der Menschheitsgeschichte. Allerdings riskieren wir damit eine Umkehr der Evolution des Denkens.

Dieser könnte Text mit der x-ten Aufzählung beginnen, wie die Digitalisierung unseren Alltag verändert hat und prägt. Nur: In Zeiten von KI-generierten Inhalten, Diskursen zum sogenannten Metaverse und immer wieder neuen Rekordzahlen bei der Social Media-Nutzung scheint das Netz mittlerweile dermaßen allgegenwärtig, dass dieser Einstieg reichlich obsolet wäre. Der lateinische Wahlspruch „citius, altius, fortius“ („schneller, höher, stärker“) würde jedenfalls heutzutage genauso gut als Motto für das Internet passen wie für die Olympischen Spiele, die dieses Jahr wieder stattfinden.

Zweifellos hat die Digitalisierung unzählige Vorgänge vereinfacht und beschleunigt. Doch genau da liegt langfristig und bei fehlender Reflektion eine Gefahr, warnen mehr und mehr Expert:innen aus unterschiedlichen Fachbereichen. Die allgemeine These: Dadurch, dass wir uns zunehmend auf elektronische Hilfsmittel verlassen, verlernen wir nicht nur praktische Fähigkeiten, sondern ganz grundlegende kognitive Eigenschaften. Wie bei Astronaut:innen, deren Muskeln in der Schwerelosigkeit degenerieren, geben wir aus Bequemlichkeit urmenschliche Merkmale Stück für Stück auf.

Randnotiz wert: Schreibkompetenzen nehmen weiter ab

In unserer IT-Gesellschaft spielt beispielsweise die Handschrift kaum noch eine Rolle. Ein Großteil der Texte wird, wie dieser hier auch, getippt oder diktiert. Dabei trainiert das handschriftliche Schreiben die Feinmotorik und wirkt sich begünstigend auf unsere Gedächtnisleistung aus, da mehr Hirnareale beteiligt sind. Diverse Studien und Versuche belegen immer wieder, dass Menschen Dinge besser im Kopf behalten, wenn sie sie aufschreiben statt sie über eine Tastatur einzugeben. Untersuchungen zufolge haben sich aber vor allem während der Coronapandemie die Schreibkompetenzen der Schüler:innen in Deutschland weiter verschlechtert. In der Kultusministerkonferenz vom 15. März 2024 wurde nun für die Arbeit in Grundschulen vereinbart, dass die Entwicklung einer individuellen flüssigen Handschrift unumgänglich sei – egal ob in Druck- oder Schreibschrift. „Digitales Schreiben ergänzt den Handschreibunterricht zeitgemäß“, so das Fazit.

Auch das unabhängige Kartenlesen gehört zu den vom „Aussterben“ bedrohten Fähigkeiten. Dank Echtzeit-Navigation über GPS und zunehmend detailliert gestalteten Apps ist es kaum noch notwendig, selbst Routen herauszusuchen oder sich in größerem Umfang zu orientieren. In Österreich zeigen Erhebungen, dass sich auffällig viele 21- bis 30-jährige Personen beim Wandern verirren. Das Österreichische Kuratorium für Alpine Sicherheit (ÖKAS) weist deshalb wiederholt auf die Eigenverantwortung hin – fernab von technischen Hilfen. Räumliches Denken und ein natürliches Gespür für Distanzen und Ausmaße seien unerlässlich, mahnen Bergführer.

Schon lange keine Langeweile mehr

Die Digitalisierung greift sogar da ein, wo früher sonst vielleicht gar nichts gewesen wäre: beim Warten und der Langeweile. Durch die permanente Verfügbarkeit von Informationen und Unterhaltung bringen sich viele Menschen vor allem über mobile Geräte in einen Zustand der dauerhaften Reizüberflutung. Bereits 2019 haben Forscher:innen die These der „sozialen Beschleunigung“ untermauert. Demnach sinkt die Aufmerksamkeitsspanne unserer Gesellschaft für einzelne Themen. Durch die Dopamin-Ausschüttung beim Checken von sozialen Netzwerken gerät der schnelle Griff zum Handy zum unbewussten Reflex.

Dauerberieselung statt Stillstand ist die Folge. Dabei gilt Langeweile in der Wissenschaft sogar als „Motor der Kreativität“: Psycholog:innen beschreiben den Prozess als „Gedankenwandern“. Erst bei wirklicher Langeweile haben wir Kapazitäten für neue Denkansätze und kreative Lösungen.

Aus großer Macht folgt große Abhängigkeit?

Wie könnte oder sollte die Zukunft für den digitalen Menschen aussehen? „Spiderman“-Autor Stan Lee kreierte den bis heute vielzitierten Satz: „Aus großer Macht folgt große Verantwortung“ („With great power comes great responsibility“). Auf das Internet gemünzt, müsste es wohl warnend heißen: Aus großer Macht folgt große Abhängigkeit.

Dennoch ist eine Abkehr von der Technik weder zielführend noch realistisch. Notwendig ist ein bewusster Umgang mit ihr – und womöglich ein Abschied von gängigen Narrativen: Zum Beispiel, dass Deutschland wirtschaftlich den Anschluss an die Weltspitze vollends verpasse, wenn die Digitalisierung im Schulbereich weiterhin so vergleichsweise zögerlich voranschreite. Dass dem nicht so ist, betonen Gerald Lembke und Ingo Leipner in ihrem Buch „Die Lüge der digitalen Bildung – Warum unsere Kinder das Lernen verlernen“. Sie kommen zu dem Schluss: „Kinder brauchen eine starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie sich in virtuelle Abenteuer stürzen“. Vielleicht hilft es da schon, wenn man sich zuweilen an den Schlusssatz einer jeden „Löwenzahn“-Sendung mit Peter Lustig hält: „Ihr wisst schon Bescheid: Abschalten!“

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