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Im Dialog bleiben für die Demokratie

Von Friederike Teller / 21. April 2021
picture alliance / Wolfgang Kumm | Wolfgang Kumm

Warum die einstige DDR-Dissidentin Gesine Oltmanns sich auch nach der Wiedervereinigung noch immer „für ein offenes Land mit freien Menschen“ einsetzt.

Gesine Oltmanns war gerade erst 13 Jahre alt und lebte als Pfarrerstochter im ländlichen Sachsen, als die Stasi ihren großen Bruder Eckhardt verhaftete und zu einer Gefängnisstrafe von eineinhalb Jahren verurteilte. Der Grund: Ihr Bruder hatte das in der DDR verbotene Westmagazin Der Spiegel an seine Freunde weitergegeben.

So prägten bereits in der Kindheit staatliche Überwachung und das repressive Vorgehen des DDR-Regimes Oltmanns‘ Leben und ihre Wahrnehmung davon. Sich einfach anzupassen war für sie nie eine Option. Darum entschied sich die 1965 geborene Oltmanns für den Kampf um die Freiheit. Im Oktober 1989 war die zierliche Frau mit den braunen, schulterlangen Haaren eine der InitiatorInnen der ersten Leipziger Massendemonstration, die zum Fall der Mauer und der Wiedervereinigung führte und als „Friedliche Revolution“ in die Geschichte einging.

Dass es soweit kommen sollte, war längst nicht von Anfang an klar. Als Oltmanns mit 18 Jahren nach Leipzig zog, durfte sie aus politischen Gründen weder ein Biologiestudium aufnehmen noch eine Ausbildung beginnen und musste sich mit verschiedenen Hilfsarbeiten durchschlagen. Über ihren zweiten Bruder Dietrich, der als Künstler arbeitete, fand sie an die kreative Szene in Leipzig Anschluss. Zwischen Lesungen, besetzten Häusern und Punkkellern zelebrierte die so politisierte junge Frau das Anderssein und initiierte bald Protestaktionen gegen repressive staatliche Maßnahmen. Doch jede Form von Abweichung wurde im konformistischen System der DDR als Provokation gelesen, streng überwacht und mitunter bestraft. Im Januar 1989 steckte die Stasi deshalb auch Gesine Oltmanns als Oppositionelle in Untersuchungshaft. In Folge DDR-weiter und internationaler Solidarität wurde sie jedoch nach wenigen Tagen wieder freigelassen.

„Für ein offenes Land mit freien Menschen“, stand auf dem Transparent, das Oltmanns zusammen mit der Malerin Katrin Hattenhauer am 4. September 1989 vor die Leipziger Nikolaikirche schmuggelte und bei der ersten Montagsdemo öffentlich hochhielt. Für die damals 24-jährige Oltmanns war das ein radikaler Schritt – adressierte sie damit doch eine unmissverständliche Botschaft an das Regime. Anwesende Stasimitarbeiter in Zivil schritten sofort ein, rissen das Transparent herunter und zerrten die jungen Frauen zu Boden.

Am 9. Oktober versammelten sich nach dem montäglichen Friedensgebet deutlich mehr Menschen vor der Nikolaikirche. „Keine Gewalt“, riefen die über 70.000 DemonstrantInnen den bewaffneten PolizistInnen und sogar dem Militär entgegen. Doch so euphorisiert die Gemeinschaft auch war, alle wussten, dass die Stimmung jederzeit kippen konnte. Viele rechneten mit einer gewaltsamen Eskalation, so wie auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ in China wenige Monate zuvor. Aber die Demonstration verlief friedlich: Die Zurückhaltung des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow sowie die Massenausreisen in den Westen hatten den Druck auf die bankrotte DDR spürbar erhöht. Es galt, negative Schlagzeilen zu verhindern.

Wenige Wochen später fiel die Mauer. Anstatt wie viele andere auszuwandern, blieb Oltmanns in Leipzig. Sie widmete sich der Aufarbeitung von Stasiunterlagen – außer ihrer eigenen Akte – und studierte Jura, um die Rechtlosigkeit, die sie erlebt hatte, zu verarbeiten. Der anfängliche Freudentaumel der Wiedervereinigung verflog kurze Zeit später, viele Menschen in Ostdeutschland sorgten sich um ihre Zukunft. Die Arbeitslosigkeit stieg, die Geburtenrate sank. Gesine Oltmanns aber entschied sich, Mutter zu werden, und zog mit ihrem Mann neun Kinder groß. Für sie war die Gründung einer Familie Ausdruck dafür, der Zukunft zu vertrauen.

Wer oder was ist eigentlich „das Volk“?

In den letzten Jahren versuchten nationalkonservative und rechte Gruppen, das Erbe der „Friedlichen Revolution“ zu instrumentalisieren. Rechtsextreme Legida-Protestierende kaperten 2015 den Slogan „Wir sind das Volk“ für ihre Zwecke und auch die Anti-COVID-Bewegung Querdenker bezieht sich auf die DDR-Bürgerrechtsbewegung. Am Rande einer Querdenker-Demo im November 2020 gerieten Gesine Oltmanns und Pfarrer Christoph Wonneberger aneinander. Wonneberger, in der DDR ein enger Vertrauter Oltmanns‘ und Koordinator der Friedensgebete von 1986 bis ’89, ist nicht der einzige ehemalige DDR-Bürgerrechtler, der heute die Querdenker-Proteste unterstützt. Oltmanns und zwölf weitere BürgerrechtlerInnen distanzierten sich öffentlichkeitswirksam davon und beschrieben den Protest empört als Missbrauch der Werte der „Friedlichen Revolution“.

Für Oltmanns steht fest, dass das Kommunikationsdefizit zwischen der DDR und ihrer Bevölkerung den Vorgang des Dialogs zu einem politischen Akt erhoben hat, der als ein wesentliches Element jeder Demokratie anerkannt sein muss. Deshalb traf sie sich auch mit Wonneberger im Nachhinein noch zum vertrauensvollen Austausch. Als Teil des Vorstands der Stiftung Friedliche Revolution beschäftigt sich die heute 56-Jährige weiterhin mit diversen Dialogformaten und Projekten wie „FREI_RAUM für Demokratie“ und setzt sich für eine gerechte Erinnerungskultur ein. Denn Oltmanns sehnt sich nach einer Wirklichkeit, in der alle Menschen und deren Lebenserfahrungen akzeptiert werden. Für sie bedeutet das in der Konsequenz eine unumstößliche Offenlegung. Auch wenn dazu die Schatten im Leben der BürgerrechtlerInnen selbst thematisiert und ans Licht gebracht würden, einschließlich der Denunziationen in den eigenen Reihen. Um am Ende die ganze Geschichte zu erfahren – und sie im gemeinsamen Dialog zu verhandeln.

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