(Kein) Ende der Volksparteien?
Seit den 1980er-Jahren schwinden die Mitglieder- und Wähler*innenzahlen der großen deutschen Volksparteien zugunsten kleinerer Alternativen. Wenn die Letztgenannten den äußersten rechten Rand berühren, droht dies zu einer Krise des demokratischen Systems zu eskalieren. Oder nicht?
Von Yana Gospodinova
Am Anfang war die Definition…
F. wirkt etwas betrübt. Er sucht ein kleines Notizheft heraus, schaut leicht beschämt und erzählt, dies sei das SPD-Parteibuch seines Vaters. »Ich war selbst Mitglied«, beginnt er zögerlich zu erzählen. »Aus Überzeugung bin ich beigetreten und aus Überzeugung wieder ausgetreten. Meine schicke Plastikkarte habe ich nicht mehr. Doch das Parteibuch meines Vaters werde ich nie wegschmeißen.«
Der Ein- und Wiederaustritt von F. steht stellvertretend für die Geschichte vieler anderer ehemaliger SPD-Mitglieder. Sie fühlen sich von den Volksparteien nicht ausreichend repräsentiert und fühlen sich unverstanden. Doch was versteht man überhaupt unter einer Volkspartei?
Dem Parteienforscher Peter Lösche zufolge ist eine Volkspartei per definitionem einem sozialmoralischen Milieu entsprungen und kann durch einen Spagat in die sogenannte Mitte verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen in sich aufnehmen. Er plädiert für die Formel »Massenpartei auf Klassenbasis«. Die Volkspartei solle also nicht nur die milieuspezifischen Anliegen ihrer Stammwähler*innenschaft auf der Agenda haben, sondern auch auf breitere gesellschaftliche Probleme reagieren.
Viel zu viele Köche
Doch diese Definition entspricht kaum noch der Realität des 21. Jahrhunderts. Selbst Begriffe wie »Massenpartei« oder »Klassenbasis« erscheinen anachronistisch für die heutige pluralistische Post-Post-Gesellschaft. Die Lebensentwürfe sind viel zu facettenreich geworden. Die Latte-Macchiato-schlürfende Mutter am Kollwitzplatz hat nur noch wenig mit dem Milchbauern aus Niederbayern gemein.
Die Zahlen bestätigen diese Tendenz. Zuletzt zeigte eine 2015 erschiene Studie unter Leitung des Berliner Politikwissenschaftlers Oskar Niedermayer, dass die SPD mehr als die Hälfte und die CDU über 40 Prozent ihrer Mitglieder in den letzten 25 Jahren verloren haben. Seit zwei Dekaden wird fleißig über das Ende der Volksparteien diskutiert. Doch Lösungen bleiben bisher aus.
Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter sieht in der Erosion der traditionellen Milieus und im Profilverlust die Hauptgründe für die schwindende Attraktivität der altgedienten Parteiorganisationen. In seinem Buch »Ende der Volksparteien« attestiert er das Aussterben des traditionellen Parteimodells als Integrationsmechanismus in der Demokratie. An ihre Stelle treten neue »Sammelparteien«, die von einer populistischen Rhetorik gekennzeichnet sind.
Diese besorgniserregende Entwicklung ist auch an der Abwanderung von Wähler*innen zur AfD abzulesen. Eine im Auftrag der ARD durchgeführte Befragung zeigte, dass die Rechten bei diversen Landtagswahlen 2016 elf Prozent der Stimmen aus der klassischen SPD-Wähler*innenschaft und sogar ganze 23 Prozent aus dem CDU-Elektorat gewannen.
Im Reich der neuen Utopien
Viele befürchten, dass die AfD zur neuen Volkspartei aufsteigen könnte – zuletzt nannte sie die ZEIT die »Partei der radikalisierten Mitte«. Sie wird sowohl von Besserverdiener*innen als auch von Arbeitslosen gewählt. Die Datenerhebungen nach den Landtagswahlen zeigten, dass knapp 23 Prozent der Dauerarbeitslosen in Baden-Württemberg für die Rechten gestimmt hatten. In den Medien wurden diese Ergebnisse oft als »Krise der Konsensdemokratie« gedeutet. Doch die Krise kann auch eine Chance sein. Für Autor*innen wie Georg Diez oder Mely Kiyak heißt das, flexibel zu denken und neue Formen und Lösungen zu suchen, anstatt sich steil an Vergangenheitsformeln festzubeißen.
Parteiverdrossenheit bedeutet nicht zwingend Politikverdrossenheit. Dazu sagt die amerikanische Philosophin Judith Butler: »Ich schlage vor, den Kreis der Solidarität zu erweitern, denn dies ist wichtiger als Parteizugehörigkeit. Ich gehe manchmal sogar antagonistische Allianzen ein, jedoch geleitet von höheren Zielen, wie etwa der allgemeinen Demokratisierung.«
Bereits im vergangenen Jahr plädierte Gesine Schwan während der Sommeruniversität für eine Rückbesinnung auf die Ursprungswerte der Sozialdemokratie und ihre Anwendung auf globale und lokale Kontexte. Denn die drei Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind laut Gesine Schwan »die Wegweiser dafür, worum es für alle Menschen geht.«