(K)ein Streit ums Bier
Deutsche und Tschech*innen verbindet einiges. Aber man kennt sich nur wenig. Die Streitkultur verrät viel über ein Land und seine Leute. Fragt sich nur, wie streitet man auf Tschechisch?
21 Uhr in Prag, Stadtteil Vinohrady. An einem der vielen Hügel der Hauptstadt liegt die Krymská, eine Kneipenstraße. Ich will Rolf Hermann treffen, einen flüchtigen Bekannten aus Deutschland, der seit fast 20 Jahren in Tschechien lebt. Gepflegter Bart, erste graue Haare – Hermann, der gern anonym bleiben will, ist in seinen Vierzigern. „Was steht an?“, fragt er lächelnd. „Wir suchen Streit“, antworte ich und blinzele.
Wir lassen uns im Sladkovský nieder, einer verlässlichen Adresse, um auf kontaktfreudige Einheimische und trinkfeste Gestalten zu treffen, und kommen gleich ins Gespräch. „Die Kneipen hier versuchen, sich gegenseitig darin zu überbieten, wer das unbekanntere Bier zapft“, sagt Hermann. Klar, Tschechien und Bier – das inoffiziell als Nationalgetränk gilt – gehören zusammen. 2017 etwa lag der Pro-Kopf-Konsum bei stattlichen 138 Litern (zum Vergleich: Deutschland liegt mit 101 Litern deutlich dahinter). Wir bestellen Únětický pivovar, eine regionale Sorte. Die Brauerei liegt in Únětice, einem kleinen Ort nördlich der Stadt. Ein halber Liter kostet 40 Kronen (ca. 1,60 Euro), also preisliches Mittelfeld.
Viel ist noch nicht los an diesem Montagabend. Außer uns sind nur ein paar Leute da. An der Theke ein alter Mann mit langem, weißem Haar und grimmigem Blick, der sich an seinem Bier festhält und nicht sehr gesprächig wirkt. „So leer habe ich es hier noch nicht gesehen“, ist Hermann überrascht. In Prag sind die Kneipen für gewöhnlich auch wochentags gut gefüllt. Die Chancen, Zeuge tschechischer Streitkultur zu werden, stehen also theoretisch gar nicht mal schlecht, hoffe ich.
Obacht vor Straßen-Piraten!
Sorgen Bierpreise unter Tschech*innen für Ärger? Herman erkennt das Potential dafür eher woanders. „Streit im Straßenverkehr war und ist hier immer noch krasser als in Deutschland“, warnt er und erzählt, dass er einmal auf der Autobahn auf 0 km/h heruntergebremst wurde. „Wahrscheinlich hat dem Fahrer mein Auto nicht gefallen, ich bin zu langsam gefahren, was weiß ich.“ Für solche aggressiven Typen gibt es in Tschechien sogar einen eigenen Begriff: Straßen-Piraten. Seinen alten Mercedes hat Hermann inzwischen gegen einen Škoda eingetauscht – original mit tschechischem Nummernschild.
Während die Bedienung das zweite Bier bringt, fällt mir die Psychologin Dr. Sylvia Schroll-Machl ein, die mehrere Bücher über deutsch-tschechische Unterschiede verfasst hat. Darin beschreibt sie Tschech*innen als konfliktscheu. Gut beobachten lässt sich das im Arbeitsleben, denke ich: Tatsächlich ist mich seit meinen drei Monaten Praktikum hier nie irgendjemand direkt angegangen, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Lässt sich einer Streitsituation allerdings nicht aus dem Weg gehen, so Schroll-Machl, sei es nicht ungewöhnlich in Tschechien, Konflikte persönlich zu nehmen und auf der Beziehungsebene auszutragen. In Deutschland stünde dagegen im Vordergrund, eine Diskussion möglichst rational und sachlich zu führen.
In hierarchischen Strukturen, so Schroll-Machl, werde in Tschechien nach oben hin oft passiv Widerstand geleistet und boykottiert. Als Vorbild dafür diene die Figur des „braven Soldaten Schwejk“, der die Haltung verkörpert, dass sich Kämpfen nur lohnt, wenn es die Chance auf einen Sieg gibt, und der darüber hinaus mit Humor und Sarkasmus auf die Ausweglosigkeit seiner Situation reagiert.
Reproduzieren statt Argumentieren
„Das hat auch mit dem Bildungssystem zu tun, damit, wie unterrichtet wird“, erklärt mir Hermann, der zeitweise als Lehrer gearbeitet hat. In tschechischen Grundschulen gebe es oft frontal ausgerichtete Sitzordnungen. Ältere Schüler*innen riefen die Lehrer*innen mit Nachnamen auf, geantwortet werde im Stehen. Es zähle vielmehr die Reproduktion von Inhalten als selbstständiges Argumentieren, so Hermann.
Von diesem autoritären Geist ist in der Kneipe zum Glück ist nichts zu merken. Ich blicke mich um. Schweres dunkles Holz, dämmrige Beleuchtung, hohe Decken mit leichtem Rundbogen, eine alte Couch an der Wand. Inzwischen hat sich auch noch ein Pärchen ins Souterrain gesetzt. Für ein Date. Das ist mir alles zu harmonisch. Aber der Bierkrug ist noch voll, also Themenwechsel: Politik. Vielleicht erregen wir ja damit ein paar Gemüter.
Ein „echter Kerl“ als Ministerpräsident
Das Land Tschechien gibt es in seiner gegenwärtigen Form erst seit 1993. Geführt wird es vom aktuellen Premierminister Andrej Babiš und Staatspräsident Miloš Zeman, die beide die Bevölkerung tief spalten. Babiš amtiert seit 2017 als Vorsitzender der populistischen Ano-Partei. Er gilt als einer der reichsten Männer des Landes, ist an mehr als 200 Unternehmen beteiligt, darunter die größten Medien. „Babiš ist ein borec, ein Kerl, ein Macher, sagt man hier“, erzählt Hermann. Bisher konnte ihm kein Skandal schaden. Während seiner Zeit als Finanzminister erhielten seine Unternehmen so viele EU-Mittel wie nie zuvor, der Verdacht der Korruption steht noch immer im Raum.
Wissenschaftlich betrachtet, kommt Babiš ebenfalls schlecht weg. Eliska Wölfl von der Universität Passau, die sich mit der Geschichte und Kultur Osteuropas beschäftigt, bestätigt den negativen Eindruck. „Ihm wird oft vorgeworfen, dass er nicht unabhängig sei und die Mehrheit der Medien beherrsche. Letztlich findet er aber immer Unterstützung bei Präsident Zeman“, hatte sie mir zur Vorbereitung auf diesen Abend erklärt. Miloš Zeman ist seit 2013 Präsident und steht in der Kritik, das Land zu sehr in Richtung China zu öffnen. Wölfl sieht darin eine Spannung: „Die Staatsspitze orientiert sich nach Osten, die Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich dagegen eher eine Orientierung gen Westen.“
Zurück in die Bar. Draußen werden krachend die Metall-Rollos heruntergezogen, die Kellnerin fragt nach der letzten Runde. Es ist kurz nach 23 Uhr. Fast bin ich enttäuscht. War doch der Plan, einen möglichst typischen tschechischen Kneipenabend zu erleben. Bierchen, ein paar schlechte Witze, ein paar streitlustige Kommentare. Aber damit ist hier heute nicht mehr zu rechnen. Vielleicht bin ich dem Klischee zu sehr aufgesessen. Dem alten Mann am Treseneck fallen langsam die Augen zu. Hermann und mir bleibt nichts weiter, als zu zahlen: 2,6 Liter Bier für 220 Kronen, also 9 Euro. Bier ist günstig, darin sind wir uns einig.