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Keine Zeit für den Rechtsstaat

Von Christoph Fischer / 24. August 2022
picture alliance / Erwin Wodicka/Shotshop | Erwin Wodicka

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat die Entlassung mehrerer Tatverdächtiger aus der Untersuchungshaft angeordnet. Der Grund: Personalmangel. Am zuständigen Landgericht dauerte das Verfahren zu lange.

Sommer 2021. Die Nacht hat sich über den Frankfurter Stadtteil Höchst gelegt, die Hitze des Tages nachgelassen. Während andere friedlich schlafen, geht es am Bahnhof alles andere als friedlich zu. Eine vierköpfige Gruppe greift zwei Personen an, schlägt mit Stöcken zu und sticht auf sie ein. Die beiden Opfer werden lebensgefährlich verletzt.

So zumindest soll sich am 03.07.2021 laut der Staatsanwaltschaft Frankfurt eine Tat abgespielt haben, wegen der vier Angeklagte in Untersuchungshaft sitzen. Oder besser: saßen.

Beschleunigungsgrundsatz vs. Langsamkeitsrealität

Zwar hat das Landgericht Frankfurt am Main die Angeklagten in Untersuchungshaft geschickt, allerdings wurde das Verfahren gegen die mutmaßlichen Täter auch fünf Monate nach deren Anklage noch nicht bearbeitet und noch nicht einmal ein Termin zur Verhandlung festgesetzt.

Die Häftlinge haben gegen die lange Haftdauer geklagt und das zuständige Oberlandesgericht gab ihnen Recht. Denn: Wer in Untersuchungshaft sitzt, gilt bis zur Verurteilung als unschuldig. Das Gericht muss daher so schnell wie möglich den Fall verhandeln, um die Haftzeit so kurz wie möglich zu halten. Im deutschen Recht nennt man das den „Beschleunigungsgrundsatz“.

Doch deutsches Recht ist zunächst nicht mehr als Theorie. In der Realität funktioniert das theoretische Vorgehen häufig nicht. Fälle wie der in Frankfurt sind längst kein Einzelfall mehr: Laut einer Mitteilung des Berufsverbands Deutscher Richterbund (DRB) wurden 2021 aus diesem Grund 66 Tatverdächtige aus der U-Haft entlassen, 2020 waren es 40. Sogar ernsthafte Tatvorwürfe spielen dabei offenbar keine Rolle. Auch ein Mordverdächtiger könnte wegen zu langer Bearbeitungszeiten entlassen werden, bis es zum Urteil kommt. Theoretisch.

Berechenbarer Kollaps – Sind unsere Gerichte überlastet?

Vor weniger als zehn Jahren wurde Alarm geschlagen. „Wohin nur mit all den Anwälten?“, titelte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel 2013. Nur acht Jahre später kam es zur Trendwende. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik (DDR ausgenommen) war die Zahl an Rechtsanwält*innen im Jahr 2021 rückläufig, nachdem sie schon seit 2015 kaum gestiegen ist.

In den Gerichten kämpft man derweil gegen limitierte Personalkapazitäten durch zu wenige ausgeschriebene Jobs. Der DRB fordert darum die Schaffung von mindestens 2.000 weiteren Stellen bundesweit.

Die Landesjustizverwaltungen berechnen ihrerseits den aktuellen Bedarf mit Hilfe eines Berechnungssystems mit dem so nüchternen wie sperrigem Namen „Personalbedarfsberechnungssystem“. Das System mit dem offiziellen Akronym „PEBB§Y“ gibt genaue Standardzahlen für verschiedene Tätigkeiten vor. Hiernach braucht es bei der Staatsanwaltschaft beispielsweise 69 Minuten zur Bearbeitung einer Jugendstrafsache, 513 Minuten für einen Raub und 255 Minuten, um bei einer Vergewaltigung eine Anklageschrift zu verfassen und an der Gerichtsverhandlung teilzunehmen.

Auf Akzeptanz stößt dieses System längst nicht bei allen. So hieß es schon vor einigen Jahren seitens des Vereins Neue Richtervereinigung, dass PEBB§Y zur Bedarfsermittlung nicht geeignet sei. Was die Bürger*innen von der Justiz erwarteten, könne man nicht einfach nur in Zahlen ausdrücken.

Gerechtigkeit unter Zeitdruck

Ob mit oder ohne Stoppuhr neben dem Schreibtisch: Allen Beteiligten ist bewusst, dass der Personalmangel schwerwiegende Folgen hat. Auch in der Politik ist die Nachricht angekommen. 2019 haben sich Bund und Länder auf den „Pakt für den Rechtsstaat“ geeinigt, um vorhandene Lücken zu schließen. 220 Millionen Euro hat der Bund hierfür zur Verfügung gestellt.

Ob dieses Vorgehen den Gerichten hilft, bleibt abzuwarten. Solange der aktuelle Zustand fortwährt, wird es immer wieder zu Situationen wie am Landgericht Frankfurt kommen. Damit wird nicht nur das Vertrauen in den Rechtsstaat geschwächt, sondern auch Jura-Absolvent*innen abgeschreckt: Privatunternehmen, die etwas von sich halten, werben um fähigen Nachwuchs heutzutage mit dem Versprechen einer ausgeglichenen „Work-Life-Balance“. Dagegen kann eine verstaubte Judikative mit Burnout-Garantie auf Dauer nicht bestehen und dem Stellenmangel könnte ein Stellenbesetzungsmangel folgen.

Was sich mit Zahlenangaben schlecht erfassen lässt, ist die qualitative Auswirkung des Problems. Im juristischen Berufsstand ist „Judex non calculat“ (lateinisch für: „Der Richter rechnet nicht“) eine in der Regel scherzhaft gebrauchte Redewendung, die das Stereotyp aufgreift, dass es Jurist*innen an mathematischen Fähigkeiten fehle. Wenn aber nun wegen knapper Zeitressourcen die Frage aufkommt: „Wie viele Minuten habe ich für diesen Fall zur Verfügung?“, besteht die Gefahr, dass ein gerechtes Urteil dem Zeitdruck zum Opfer fällt.

Denn hinter Zahlen stehen echte Menschen, die nicht zu ihrem Recht kommen. Sie verschwinden aus der Wahrnehmung, weil sich ihr konkretes Schicksal nicht in eine allgemeine Statistik pressen lässt. Dieser Zustand ist für einen Rechtsstaat unrühmlich.

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