Lasst uns Tieren Rechte geben! – Und dann?
Die Forderung nach Tierrechten ist komplexer, als sie auf den ersten Blick scheint. In Deutschland liegt der Fokus in der Praxis bislang ausschließlich auf der Vermeidung von Tierleid. Was aber, wenn wir anders auf Tiere blicken?
Vor dem Limbecker Platz in Essen steht eine Gruppe von Aktivist*innen. Sie tragen Anonymus-Masken, die ihr Gesicht verdecken, und halten Bildschirme vor ihre Körper, auf denen Videoszenen aus Tierställen zu sehen sind. Erkennen lässt sich wenig. Es ist zu viel Dunkelheit am Bildschirmrand und zu helle Lichtkegel in der Bildmitte, wo Taschenlampen eine schwer identifizierbare, bewegliche Masse anstrahlen.
Anonymous for the Voiceless heißt die 2016 in Australien gegründete Aktionsgruppe. „Wir wollen damit bei den Menschen erstens Verständnis für die eigene Verantwortung schaffen und zweitens zeigen, wie umfassend die Möglichkeiten inzwischen sind, vegan zu leben“, erklärt Tobias Polenz, bis vor kurzem noch Ortsgruppenleiter in Essen. Durch die Konfrontation mit den Aufnahmen der Dokumentation „Dominion“ will der deutsche Ableger der Gruppe auch hierzulande neugierig machen. Angesprochen werden nur Passant*innen, die von sich aus stehen bleiben. „Wir alle wissen, dass wir Tiere massenhaft falsch behandeln. Die Verknüpfung dieses Wissens mit dem eigenen Handeln braucht Zeit“, erklärt Polenz die Zurückhaltung.
Der Blickwinkel entscheidet über den Umgang
Die Aktivist*innen zielen auf das Mitleid der Passant*innen ab. Zwar sinkt die Zahl der Nutztiere in Deutschland, doch noch immer wurden im Jahr 2022 mehr als 21 Millionen Schweine und elf Millionen Rinder gehalten. Bei Hühnern waren es 2020 mehr als 173 Millionen. Allerdings zeigt allein der Begriff „Nutztier“, dass hier andere Standards gelten als bei den etwa 35 Millionen „Haustieren“.
Die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum kritisiert in ihrem Anfang des Jahres veröffentlichten Buch „Gerechtigkeit für Tiere“ (engl. Original: Justice for Animals) den menschlichen Umgang mit Tieren vehement. Sie fordert einklagbare Tierrechte, die sich an den Fähigkeiten der betrachteten Tierart orientieren. Neben dem Recht auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit, gehört laut Nussbaum auch die Möglichkeit, ihre charakteristischen Sinne, ihre Einbildungskraft und ihr Denken einzusetzen sowie die Zugehörigkeit zu Tieren ihrer eigenen und anderer Arten auszubilden – und auch: das Recht auf Spiel und Vergnügen.
Wie Anonymous for the Voiceless argumentiert auch Nussbaum, dass aus unserem Wissen eine ethische Verantwortung folge. Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist unter anderem das Gefühl der Ungerechtigkeit, das sich einstelle, wenn Tiere vom Menschen in der Ausübung ihrer spezifischen – oder wie Nussbaum es ausdrückt: „erstaunlichen“ – Fähigkeiten zum Beispiel durch falsche Stallhaltung behindert werden.
Der deutsche Blick: Tierleid reduzieren
In Deutschland steht die Verhinderung und Minderung von Tierleid im Fokus von Tierrechten – verglichen mit Nussbaums Ansatz ein recht enger Blick. Konkret bedeutet das: Wenn Tierschutz der Wirtschaftlichkeit der (Nutz-)Tierhaltung entgegensteht, wird oft der Wirtschaftlichkeit Vorrang gegeben. Auch zum Nachteil des Tierwohls, wenn dies als vertretbar gilt.
Was aber würde es bedeuten, wenn wir Tiere anders betrachten würden, wenn sie starke, vor Gericht einklagbare Rechte hätten? Die von Nussbaum genannten Forderungen anzuerkennen, würde hierzulande einen Paradigmenwechsel nach sich ziehen und einen Bruch mit jahrtausendalter Rechtsgeschichte.
„Das römische Recht unterscheidet zwischen Personen und Sachen – ‚personae‘ und ‚res’“, erklärt Prof. Katja Stoppenbrink, Professorin für Ethik in den sozialen Berufen an der Hochschule München. Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) wird unterschieden zwischen Rechtssubjekten und -objekten. Zu ersteren zählen Tiere nicht. Zwar wurde 1990 unter heftigen Diskussionen ergänzt: „Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt.“ Zu einer wirklichen Änderung, lautet die Einschätzung von Kritiker*innen, habe das nicht geführt. Letztlich sei es bei einer symbolischen Gesetzgebung geblieben, sagt Stoppenbrink.
Die Folge lässt sich laut Stoppenbrink an heutigen Praktiken beobachten. „Im Grunde können Sie Tiere wie Legosteine behandeln: Sie können sie stapeln und transportieren – es gibt zwar Vorschriften, aber wesentlich behandeln wir Tiere weiterhin wie Sachen.“ Den Wandel würde einzig die gesetzlich festgeschriebene Anerkennung von Tieren als Rechtssubjekte bringen.
Realitätscheck – möglich ja, aber es braucht Debatte
Ist ein solches Denken, das tierische Lebewesen als dem Menschen rechtlich gleichwertig einstuft und ihnen damit einklagbare Rechte zuschreibt, reine Phantasie, gar Wunschdenken? Stoppenbrink widerspricht. „Mir erscheint ein solcher Ansatz aus der rechtlichen Systematik heraus machbar. Mir fallen keine grundlegenden Einwände dagegen ein.“ Entscheidend sei die praktische Umsetzung durch die Politik.
Doch dazu braucht es ein Umdenken, das sich in gesellschaftlichen Debatten manifestiert, die insbesondere auch diejenigen Personen mitnehmen, die auf den ersten Blick Vorbehalte gegen die neue Rechtsordnung formulieren könnten. Aktivist Polenz ist schon jetzt überzeugt, dass „Tiere ein Recht darauf haben sollten, dass ihnen kein Leid und keine unnötigen Schmerzen zugefügt werden“, sagt er, nur um kurz darauf zu ergänzen: „Und ein Recht darauf, von uns Menschen in Ruhe gelassen zu werden.“ Die fast 250 Millionen Nutz- und Haustiere im Land dürften ob dieser Aussicht zustimmend grunzen, muhen, gackern, krähen, bellen und miauen.