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„Mein ganzes Leben war von Tanz geprägt“

Von Marlene Thiele / 27. Mai 2020
Credits: Jochen Klenk, "Diada" von Raul Valdez (2000), Badisches Staatstheater Karlsruhe;

Hans Komorowski koordiniert das digitale Debattenportal sagwas.net der Friedrich-Ebert-Stiftung. Vor seiner politischen Arbeit und dem kulturwissenschaftlichen Studium war er acht Jahre lang professioneller Balletttänzer. Im Interview erzählt er von dieser prägenden Zeit.

sagwas: Wegen der Corona-Pandemie bleiben Theater derzeit geschlossen. Was bedeutet das für die Tänzer?

Hans Komorowski: Tänzer, die an den städtischen und staatlichen Theatern des Landes angestellt sind, haben Tarifverträge. Sie bekommen ihren Lohn, auch wenn sie wegen des Coronavirus nicht auftreten können. Diese Engagements sind sehr begehrt. Dann gibt es private Ensembles, die neben staatlicher Unterstützung auf Spenden und Eintrittsgelder angewiesen sind. In Deutschland sind die privaten Ensembles noch nicht so verbreitet wie zum Beispiel in den angelsächsischen Ländern. Die dritte Kategorie ist die der freien Tänzer, die sich selbst um ihre Engagements und die Trainingsmöglichkeiten kümmern. Gerade die sind existentiell von der Krise betroffen. Darüber hinaus fehlt natürlich allen Tänzern gleichermaßen das gemeinschaftliche Training.

Du hast selbst 16 Jahre klassisches Ballett getanzt. Wie kamst du dazu?

Ich bin in Ostberlin geboren und groß geworden. Es gab dort zwei große Ballett-Ensembles und die Eintrittspreise waren – wie überall in der DDR – spottbillig. Meine Mutter ist immer gerne dort hingegangen und hat mich als Kind oft mitgenommen. Mir gefiel das so gut, dass ich es selbst einmal ausprobieren wollte. Mit sechs Jahren bin ich dann dreimal die Woche zum Kinderballett gegangen – als einziger Junge. Weil mir das großen Spaß gemacht hat, habe ich beschlossen, es professionell zu machen.

Wo konnte man sich zum professionellen Balletttänzer ausbilden lassen?

Ich wurde mit zehn Jahren an der Staatlichen Ballettschule Berlin aufgenommen. Es gab damals zwei Klassen mit je 20 bis 30 Schülern, die zuvor einen Eignungstest und eine dreitägige Aufnahmeprüfung bestehen mussten. Getestet wurden die tänzerischen Vorkenntnisse, die Musikalität sowie die physischen und gesundheitlichen Voraussetzungen. Meine Schule hatte ein besonderes Konzept, das es im Westen nicht gab: Der allgemeinbildende Unterricht war in den Ballettunterricht integriert, das heißt wir hatten abwechselnd Tanzstunden, ganz normalen Unterricht und auch während der Schulzeit immer wieder Auftritte. Wir mussten natürlich durchgängig sehr diszipliniert sein und gut auf unseren Körper aufpassen. Unsere Schule hat uns zum Beispiel davon abgeraten, mit dem Fahrrad zu fahren – einmal wegen der erhöhten Unfallgefahr, aber auch, weil sich dadurch falsche Muskeln bilden können.

„The New Temperament“ von Pascal Touzeau (2000), Badisches Staatstheater Karlsruhe, Fotograf: Jochen Klenk https://klenkjo.de/

Haben alle Schüler diese Einschränkungen über Jahre durchgehalten?

Nein, viele brechen die Ausbildung ab, weil sie sich nicht dauerhaft beschränken wollen oder weil sie den hohen Anforderungen nicht standhalten. Wir hatten jedes halbe Jahr eine Prüfung, bei der wir einer Jury unser Niveau zeigen mussten. Wer nicht gut genug war, musste die Schule verlassen. Nur ca. 15 Schüler und Schülerinnen sind bis zum Abschluss geblieben.

Wurden auch Mädchen ausgesiebt, die nach der Pubertät nicht mehr dem Idealbild der grazilen Ballerina entsprechen?

Das ist ein bisschen die Tragik dieses Berufes. Man ist als Tänzer gezwungen, vor der Pubertät die Ausbildung zu beginnen – hat sich der Körper bereits gefestigt, dann ist es zu spät. Danach kommt diese schwierige Phase der Pubertät, gerade für Mädchen, die teilweise weiblicher und “kurviger“ werden. Das hat zu meiner Zeit dazu geführt, dass teilweise Mädchen sogar die Schule verlassen mussten, weil sich anatomisch gezeigt hat, dass sie für den Beruf der klassischen Ballerina nicht geeignet waren. Diese Mädchen hatten für den Beruf gelebt und mussten dann feststellen, dass die Schule für sie keine Perspektive mehr hatte. Das ist schon sehr bitter. Ich kann mir vorstellen, dass das heutzutage nicht mehr ganz so streng gehandhabt wird.

Wie ist die Tanzszene heute?

Das Angebot ist diverser geworden. Die meisten Theater zeigen inzwischen neben den klassischen Balletten auch sehr viele moderne Produktionen, inspiriert etwa von der Popkultur oder Elementen aus dem Tanztheater. Tänzer müssen sich also nicht mehr unbedingt dem strengen Diktat des Balletts unterwerfen. Darüber hinaus gibt es inzwischen auch viele freie Gruppen, in denen die Tänzer individuell nach ihrem Geschmack und ihrer Eignung andere Stile tanzen können.

Du selbst hast klassisches Ballett getanzt – acht Jahre als Schüler, acht Jahre professionell. Wo hast du gearbeitet?

Durch meine sehr gute Ausbildung standen mir glücklicherweise viele Türen offen. Ich habe erst fünf Jahre am Anhaltischen Theater in Dessau gearbeitet. Danach bin ich für drei Jahre ans Badische Staatstheater Karlsruhe gegangen. Ich war immer fest engagiert, habe also auch Urlaubs- und Weihnachtsgeld bekommen, hatte feste Urlaubstage und eine Gewerkschaft.

„Beyond Infinity“ von Pascal Touzeau (2000), Badisches Staatstheater Karlsruhe, Fotograf: Jochen Klenk https://klenkjo.de/

Wie war der Alltag am Theater?

Zu meiner Zeit begann der Tag um 10 Uhr mit einem Grundtraining, um den Körper fit zu halten. Danach kamen Proben. Alle Künstler bekamen nach drei oder maximal vier Stunden körperlicher Betätigung eine Pause, meistens von 14 bis 18 Uhr. Ich habe dann meistens einen Mittagsschlaf gehalten. (lacht) Danach ging es mit weiteren Proben oder einer Vorstellung weiter. Feierabend war gegen 22.00 oder 22.30 Uhr abends. Dann haben wir meistens noch in der Kantine zusammengesessen, um herunterzukommen. An den Wochenenden haben wir meistens gearbeitet, die freien Tage waren unter der Woche.

Ließ sich das mit dem Privatleben vereinen?

Wenn ich mich zurückerinnere, gab es sehr viele Tänzerpaare. Sie teilen den gleichen Rhythmus und wissen, was der oder die andere fühlt. Außerdem verbringen die Tänzer viel Zeit am Theater und haben gar nicht so viel Kontakt nach außen. Wie andere junge Leute sind auch wir feiern gegangen, aber eben erst nach den Auftritten, also etwas später als andere. Und auch am Theater haben wir unsere Körper geschont und uns möglichst gesund ernährt – Einschränkungen, die zur körperlichen Härte dieses Berufes dazukommen. Nichtsdestotrotz war es eine sehr, sehr schöne Zeit.

Obwohl du den Beruf sehr geliebt hast, hast du gekündigt und ein Studium begonnen. Wieso?

Ich merkte eine körperliche Erschöpfung. Ich war nie ernsthaft verletzt und habe auch bis heute keine Folgeschäden, aber mein Körper sehnte sich nach einer Pause. Hinzu kam der Wunsch, irgendwann zu studieren. Das Theater hatte mir kulturelle Horizonte eröffnet, über die ich mehr erfahren wollte. Ich habe ein Jahr gebraucht, um dann den Entschluss zu fassen – schließlich war mein ganzes vorheriges Leben von Tanz geprägt. Aber ich war auch schon immer ein politischer Mensch und wollte zurück nach Berlin, in die Stadt, die so in Bewegung war. Also habe ich mit 26 Jahren begonnen, an der Humboldt-Universität Philosophie und Kulturwissenschaften zu studieren. Im Nachhinein bin ich sehr froh und auch dankbar, es so gemacht zu haben. Ich war ein bisschen älter und hatte Berufserfahrung, sodass ich das Studium reflektierter angehen konnte.

ICH MERKTE EINE KÖRPERLICHE ERSCHÖPFUNG

Hans Komorowski über das Ende seiner Tänzerkarriere

Wie kamst du dann zur Friedrich-Ebert-Stiftung?

Während meines Studiums bin ich dann Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung geworden und lernte die Stiftung näher kennen. Über ein Praktikum und einzelne Projekte habe ich dann einen Zugang zur Stiftung bekommen und bin dort geblieben. Inzwischen koordiniere ich sagwas und bin sehr glücklich damit.

Hat der Tanz noch Platz in deinem Leben?

Wenn man vorher professionell getanzt hat, ist es schwierig, das als Hobby weiterzuführen – das sagen auch einige ehemalige Kollegen. Entweder man bleibt dem Ballett oder Theater verbunden, beispielsweise als Choreograph, Ballettmeister oder Maskenbildner oder man macht etwas ganz anderes. Ich habe seit 2001 nicht mehr getanzt, aber ich besuche weiterhin sehr gerne das Ballett.

Würdest du jungen Menschen heute noch zu einer Karriere als Tänzer raten?

Wenn man Lust auf diesen Beruf hat, wenn man sich zu Tanz, Musik und Bühne hingezogen fühlt, dann sollte man das auf jeden Fall versuchen. Natürlich gibt es professionelle Künstler, die sich in prekären Situationen befinden. Das ist schwierig und darüber muss man reden – genauso wie über die soziale Absicherung. Aber das kann nicht der Grund sein, seine eigene Sehnsucht zu diesem Beruf zu unterdrücken. Mein Preis waren viele Entbehrungen, aber die schönen Seiten überwiegen. Ich bin sehr froh über das, was ich erleben durfte: auf der Bühne stehen, Applaus bekommen, der eigene Name in den Zeitungen, die Zusammenarbeit mit tollen Kollegen. All das möchte ich nicht missen und das hätte mir kein anderer Beruf bieten können.

6 Antworten auf „„Mein ganzes Leben war von Tanz geprägt““

  1. Von Stefanie Elies am 27. Mai 2020

    Eine wunderbare Geschichte von Neuanfängen im Leben. Toll, und danke, lieber Hans, dass Du Deine beeindruckende Geschichte und diese schönen Bilder mit uns geteilt hast!

    1. Von Hans Komorowski am 28. Mai 2020

      Es war eine Reise in die Vergangenheit, die ich mit der Autorin Marlen unternommen habe, und wenn es mir zugleich gelungen ist aufzuzeigen, dass nicht-lineare Berufsleben spannend und lohnenswert sein können, freut mich das. Danke, liebe Stefanie!

  2. Von Armin Stübe am 1. Juni 2020

    Danke für Deine Reise in die Vergangenheit, die ich so sehr nachempfinden kann.
    Dein bisheriges Leben ist ein Beispiel dafür, dass man alles schaffen kann, wenn man nur will.
    Ich finde es besonders beachtlich, wie Du die sehr gute Ausbildung in der DDR zum Tänzer, stufenlos und ohne Brüche, im wieder vereinten Deutschland weiterführen könntest.
    Kunst kommt von Können!
    Auch Deine soziale Kompetenz blieb nicht auf der Strecke.
    Unser gemeinsamer „Chef“,
    H. W. Kendzia, bezog Dich als Schülersprecher gerne in alle großen und kleinen Probleme der Staatlichen Ballettschule Berlin, mit ein, obwohl er aus dem anderen Teil der Stadt kam, Westberlin.
    Obwohl ich als Mitglied des Lehrkörpers hunderte Schülerinnen und Schüler in den 25 Jahren kennen lernen durfte, blieben nur wenige in meinem Gedächtnis hängen.
    Du, lieber Hans Komorowski gehörst auf jeden Fall dazu.
    Ausstrahlung als Tänzer gepaart mit Wissensdrang, führte Dich zu immer neuen Ufern.
    Theorie und Praxis als
    Wechselverhältnis der menschlichen Existenz, Lebensstufen.
    Wie wünschenswert wäre es, wenn Du
    an Deine Schule zurück kehren würdest, als Koordinator und Mediator, um die
    „Staatliche Ballettschule Berlin“ aus
    der schlimmsten Krise ihres Bestehens, zu befreien.
    Im nächsten Jahr wird die SBB 70 Jahre alt, wollen wir doch alle gemeinsam feiern.
    Dein geradliniger Weg wird sich so nie wiederholen-eine Chance besteht aber.
    Werde professionelles Mitglied der Clearingstelle bei der Senatsschulverwaltung Berlin,
    besser noch-
    gleich Senator.
    Dir alles Gute im weiteren Berufsleben,
    sag was, hier oder woanders.
    Danke Hans Komorowski
    Dein ehemaliger BK Lehrer
    Armin St.
    Berlin
    Absolvent der Humboldt Universität
    Absolvent der Kunsthochschule
    Berlin – Weißensee
    Studienrat
    Bildender Künstler /Pensionär

    1. Von Hans Komorowski am 2. Juni 2020

      Lieber Armin Stübe,

      Ihr Kommentar auf das Interview hat mich sehr gefreut! Herzlichen Dank dafür! Wenn dieser Beitrag über seine Möglichkeit, eine Reise in die Vergangenheit anzutreten, hinaus auch ein Beispiel geben kann, wie man den besonderen Herausforderungen des Berufs des Tänzers und der Tänzerin begegnen oder wie man – ganz allgemein – Hindernissen zum Trotz seinen Traum erfüllen kann, dann freut mich und freut das unsere Redaktion um so mehr. Ballett und Tanz sind ja insofern nicht einfach zu bewältigen, als der Körper zum Instrument der Arbeit, der Kreativität, aber auch des eigenen Widerstands wird und die Ausübung des Berufs zeitlich begrenzt ist. Sie wissen das sehr gut. Deshalb habe ich es immer als enorme Bereicherung empfunden, wenn mir an der Ballettschule die Chance gegeben wurde, über den Tanz hinaus zu denken. Das haben Lehrerinnen und Lehrer wie Herr Kendzia, Karin Kursawe, Sie und einige andere ermöglicht. Das hat meinen tänzerischen Horizont stets erweitert und bereichert.

      Die aktuelle Situation an der Staatlichen Ballettschule Berlin ist tatsächlich beklagenswert. Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die parallele Krise am Berliner Staatsballett auch noch nicht überwunden ist. Ausgerechnet in der Kultur- und Kunststadt Berlin haben Ballett und Tanz derzeit einen außerordentlich schweren Stand. Hoffen wir deshalb darauf, dass das Jubiläum unserer Schule im kommenden Jahr Anlass sein wird, wieder den Tanz, seine Kraft und seine Faszination sowie all jene in den Mittelpunkt zu stellen, die sich mit Herz und Seele dieser Kunst verschrieben haben. #sagwas hat das im Mai schon mal getan.

      Herzlichen Dank nochmal!

      1. Von Armin Stübe am 2. Juni 2020

        Ich danke für die ausführliche Antwort auf die Fragen der Zeit, gerade in der Welt des Tanzes, die sich scheinbar auch im Wandel befindet, wie sovieles in der Kunst.
        Wie wichtig sind dabei Grundwerte, wie Meinungsfreiheit und Ästhetik des Widerstands.
        Das kulturelle Erbe muss gesichert bleiben, gerade auch in Berlin.
        Unsere Museen sind weltberühmt, unsere Theater und Opernhäuser auch, der künstlerische Nachwuchs wartet schon, ob an den Kunsthochschule, der Staatlichen Ballettschule Berlin, der Hochschule Hans Eisler, der Schauspielschule Ernst Busch u. v. a. kulturellen Einrichtungen.
        Das Debattenportal „sagwas“ gefällt mir neuerdings besonders, auch weil ich hier einen Freund der Kunst wieder fand, der sich vom
        Ballettschüler zum Tänzer, immer weiter qualifizierte, bis zum
        Kulturprofi.
        Gerne würde ich den beruflichen Weg von Hans Komorowski und seinem Team, weiter verfolgen.
        Woran arbeitet ihr, welchen Nutzen hat das kulturelle Berlin davon.
        Lebenslanges Lernen schließt auch dies mit ein.
        Viele Grüße

        Armin Stübe
        Bildender Künstler
        Berlin
        FREUND DER KUNST

        Auf meiner Kunstmatrix kann man einige Arbeiten sehen,
        DIE GELIEBTE STIMME /Typografische Blätter,
        nach
        einem BÜHNENSTÜCK von
        JEAN COCTEAU, gesprochen von Hildegard Kneef. …..

  3. Von Abramov Aleksandr am 3. Juni 2020

    Lieber Hans! Dein Artikel hat mir sehr gefallen! Bravo!!!!

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