Mindestlohn: Unternehmen geraten unter Druck
Seit Anfang des Jahres gilt in Deutschland der branchenübergreifende Mindestlohn. Eine erste Zwischenbilanz zeigt Folgen und Unzulänglichkeiten der neuen Regelung.
Während Berlin noch schläft, ist Bülent schon seit einigen Stunden wach und wartet. In seinen Händen hält er einen Roman auf Arabisch, am Rückspiegel seines Taxis baumelt ein Glücksbringer aus Eisen mit einer türkischen Flagge.
Der 40-Jährige ist seit 15 Jahren Taxifahrer in Berlin. Jeden Tag fährt der Angestellte eines großen Taxiunternehmens seine Kunden quer durch die Stadt. Seit dem 1. Januar 2015 profitiert er vom Mindestlohn. Rund 3,7 Millionen Beschäftigte sollen laut des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales durch diesen mehr Geld in der Tasche haben. Die Langzeitwirkungen des Gesetzes sind allerdings noch schwer abzuschätzen.
Viele Wirtschaftswissenschaftler hatten die Einführung des Mindestlohns im Vorfeld kritisiert. Sie hielten ihn für einen massiven staatlichen Eingriff in den Preisbildungsprozess. Den Versuch der Bundesregierung, durch die Einführung Jobs zu schaffen und Sozialleistungen zu senken, sahen sie zum Scheitern verurteilt. Drei Monate nach dem Inkrafttreten des Gesetzes sieht Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) diese Angst erst einmal nicht bestätigt. „Der befürchtete Wegbruch von einer halben Million Arbeitsplätzen und mehr ist bisher ausgeblieben“, sagt der Ökonom.
Lohn muss nun erwirtschaftet werden
„Durch die Einführung sind zwar rund 100.000 hauptberufliche Minijobs weggefallen. Diese können aber an anderer Stelle wieder in der Statistik auftauchen“, sagt Brenke. Zum Beispiel als Festangestelltenverhältnisse. Auch die übrigen Zahlen deuteten erst einmal nicht darauf hin, dass der Mindestlohn bisher im großen Umfang Arbeitsplätze gekostet hat. Da sich die Konjunktur in Deutschland im Moment sehr gut entwickelt, ist eine seriöse Bewertung aber schwierig. „Eine abschließende Bilanz nach drei Monaten ist noch zu früh“, sagt auch Marion Knappe vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). „Die Horrorszenarien, die teilweise von Wirtschaftsinstituten an die Wand gemalt worden sind, sind aber bisher ausgeblieben.“
Für Arbeitnehmer wie Bülent kann es trotzdem schwierig werden. In vielen Branchen – dazu gehören auch die Taxifahrer – sind Wartezeiten und Leerläufe Teil der Arbeit. Fährt Bülent Gäste zum Flughafen, muss er sich anschließend in die Taxischlange einreihen. Dort steht er häufig zwei Stunden, ehe der nächste Fahrgast zu ihm in den Wagen steigt. Laut des neuen Mindestlohngesetzes muss er dafür 8,50 Euro pro Stunde von seinem Chef bekommen. Bis 2015 wurde Bülent nur am Umsatz beteiligt. Hatte er einen schlechten Monat, sank auch sein Gehalt. Nun muss er seinen Lohn in den zwei Stunden durch das Fahren erwirtschaften. „Sind die Umsätze zu gering, werden die Unternehmen unter Druck geraten und möglicherweise insolvent gehen“, sagt Brenke.
Erhebliche Personalkostensteigerungen im Gastgewerbe
Dieses Problem sieht auch Matthias Dettmann, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands Mecklenburg-Vorpommern (DEHOGA MV). „Wirtschaftlich stellt der gesetzliche Mindestlohn das Gastgewerbe vor große Herausforderungen“, sagt er. Für den gleichen Umsatz sei im Gastgewerbe sechs Mal mehr Personal nötig als im Einzelhandel. Der Verband geht allein für Mecklenburg-Vorpommern von Personalkostensteigerungen in Höhe von 20 bis 30 Prozent aus. „Aufgrund dieser erheblichen Kostensteigerungen bleibt der gesetzliche Mindestlohn ein gigantisches arbeitsmarktpolitisches Experiment mit ungewissem Ausgang für Arbeitsplätze und Betriebe“, sagt Dettmann.
Die zusätzlichen Kosten werden häufig an die Kunden weitergeben – vor allem in Ostdeutschland hat das Konsequenzen. Da dort das Lohnniveau niedriger ist als in Westdeutschland, hat es durch die 8,50-Euro-Grenze besonders kräftige Lohnsteigerungen gegeben. Im Februar sind die Preise in Ostdeutschland laut DEHOGA MV um 4,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Bundesweit waren es nur 2,5 Prozent. Inwiefern die Kunden die Preissteigerungen in den kommenden Monaten akzeptieren werden, ist unklar. Die Arbeitslosigkeit in der Region ist höher, die Kaufkraft dagegen geringer als im Westen.
Umgehen des Mindestlohns
„Als Reaktionen der Hotel- und Gastronomiebranche sind eingedampfte Dienstleistungsangebote sowie reduzierte Öffnungszeiten nicht auszuschließen“, so Dettmann. In welchem Umfang Arbeitsplatzverluste und sogar Betriebsschließungen mit dem Mindestlohn verbunden sein werden, sei derzeit nicht absehbar. „Dass es solche Auswirkungen geben wird, ist aber sicher.“
Da es bei den Unternehmen viel Informationsbedarf gibt, bietet der mecklenburgische Verband Beratung für seine Mitglieder an. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat Anfang des Jahres eine Mindestlohnhotline eingerichtet. Knapp 10.000 Menschen haben bereits angerufen. Laut Marion Knappe rufen Arbeitnehmer vor allem an, weil ihre Arbeitgeber versuchen, den Mindestlohn zu umgehen. „Das läuft meist nach ähnlichen Mustern ab“, sagt sie. Arbeitgeber verteilten beispielsweise Gutscheine oder Geschenke an die Mitarbeiter, um die Differenz zwischen altem Lohn und Mindestlohn auszugleichen. Die Mitarbeiter eines Sonnenstudios hätten beispielsweise Gutscheine für das Solarium erhalten und Angestellte beim Bäcker Brot. „Der Mindestlohn von 8,50 Euro muss aber ausgezahlt werden“, sagt Knappe. Dafür gebe es keinen Ersatz. Auch Trinkgeld in Cafés oder Restaurants dürfe nicht für die Aufstockung verwendet werden.
Problematisch sind auch Umgehungsversuche bei den Arbeitszeiten. Denn seit der Einführung des Mindestlohns können Minijobber nur noch maximal 52,9 Stunden pro Monat arbeiten, um nicht Sozialversicherungsbeiträge zahlen zu müssen. Damit sie weniger zahlen müssen, rechnen Arbeitgeber beispielsweise bei Krankentransporten die Arbeitszeit künstlich klein, indem sie sie erst ab der Ankunft beim Kunden zählen oder nur die Fahrzeit zum Krankenhaus und nicht die Zeit, in der die Kranken in den Rollstuhl gesetzt werden. „Das ist natürlich nach wie vor Teil der Arbeitszeit. Alles andere ist nicht zulässig“, sagt Knappe.
Einige Gewerbe – Schausteller auf Jahrmärkten zum Beispiel – klagen darüber, dass sich bei ihrer Arbeit Pausen und Arbeitszeiten nicht klar trennen lassen und die Dokumentation der Arbeitszeit zu aufwendig sei. Der Arbeitgeber muss die Arbeitszeiten von Minijobbern zukünftig aufzeichnen und die Aufzeichnungen zwei Jahre lang aufbewahren. Das kritisiert auch Dettmann vom DEHOGA. „Der immense bürokratische Umsetzungsaufwand, insbesondere durch die neue Pflicht zur Aufzeichnung und Dokumentation der Arbeitszeit, wird oft unterschätzt, stellt aber für viele Betriebe in der Umsetzung und in der Praxis das größte Problem dar.“
Die Regelungen zur Arbeitszeitdokumentation seien „vollkommen überzogen“, so Dettmann. „Dieser zusätzliche bürokratische Aufwand muss reduziert werden.“ Knappe vom DGB ist der Meinung, es gebe genug elektronische Hilfsmittel, Apps und Vorlagen für die Aufzeichnung. Auch das Argument, dass Ereignisse wie eine Hochzeitsfeier zu lang seien, um nur acht Stunden zu arbeiten, lässt sie nicht gelten. Die Anbieter müssten dann eben zwei Schichten einsetzen.
86 Prozent der Befragten weiterhin für den Mindestlohn
Dass so viele Menschen bei der Mindestlohnhotline anrufen, hält der DGB nicht für das Ergebnis schlechter Kommunikation, sondern eher für das Resultat der zahlreichen Änderungen. Große Lücken oder Konstruktionsfehler im Gesetz gebe es im Moment nicht. Jedoch: „Es gibt einige Ungenauigkeiten im Gesetz“, so Knappe. Diese müssten aber vor allem von Arbeitsgerichten entschieden werden. Dass das Gesetz grundsätzlich gut sei, zeigt laut Knappe auch eine aktuelle repräsentative Umfrage von infratest dimap im Auftrag des DGB. In dieser gaben 86 Prozent der Befragten an, nach wie vor für den Mindestlohn zu sein – so viele wie vor der Einführung.
Bülent hält den Mindestlohn für seine Branche nicht für den richtigen Weg. Er steht an einem Einkaufszentrum im Berliner Stadtteil Wedding, während vor ihm noch zwei Taxen auf Gäste warten. Er liest sein Buch und rollt das Auto dabei immer mal wieder ein paar Zentimeter nach vorne. „Seit vielen Jahren verdienen wir jedes Jahr weniger“, sagt er. Wenn er seinen Lohn jetzt nicht mal mehr verdienen könne, werde sein Chef ihn auch nicht bezahlen. Laut des Statistischen Bundesamtes sind die Taxi-Preise im Februar um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen. Ob die Kunden das akzeptieren werden, bezweifelt Bülent. „Wir Taxifahrer brauchen eine Ausnahme. Sonst kann das mit uns nicht gut gehen.“