Occupy Identity!
WTF! Ja, W T F ! Was bleibt einem auch anderes übrig? Wie soll man denn sonst in Zeiten von Neonazi-Terror und innenpolitischer Blindgängerei mit dem Schreiben beginnen? Ja, ich habe Schaum vorm Mund. Dazu stehe ich – genauso wie zu den zu Fäusten geballten Händen in meinen Hosentaschen, wenn ich von der braunen Mordserie […]
WTF! Ja, W T F !
Was bleibt einem auch anderes übrig? Wie soll man denn sonst in Zeiten von Neonazi-Terror und innenpolitischer Blindgängerei mit dem Schreiben beginnen?
Ja, ich habe Schaum vorm Mund. Dazu stehe ich – genauso wie zu den zu Fäusten geballten Händen in meinen Hosentaschen, wenn ich von der braunen Mordserie höre. Vom Umgang mit ihr ganz zu schweigen!
Hans-Peter Uhl, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, soll kürzlich während einer Podiumsdiskussion bezüglich der Morde der Zwickauer Zelle gesagt haben, dass eine gute und vernünftige Einwanderungspolitik zum Ziel haben müsse, keine Kampfgruppen am rechten Rand entstehen zu lassen. Man könne nicht die ganze Welt umarmen.
Ich frage mich, wie es den Angehörigen der Opfer ergehen muss, wenn sie von solchen Äußerungen erfahren. Erst wurden die Toten jahrelang kriminalisiert, als Teil einer „Türken-Mafia“ stigmatisiert und nun sollen sie selbst Schuld an ihrer Ermordung gewesen sein. Wären sie nicht nach Deutschland gekommen, dann wären sie wohl nicht draufgegangen. Das ist die eigentliche Botschaft dieses alten Mannes, der von Deutschland im Jahre 2012 bestenfalls so viel Ahnung hat wie Guttenberg vom Urheberrecht.
Generation Rostock-Lichtenhagen
Es ist nicht neu, dass Politprominenz dem rechten Pöbel nach dem Mund redet.
Ich bin Teil der Generation Rostock-Lichtenhagen. Im August jährt sich die Pogromwoche zum 20. Mal. Damals war ich 16 Jahre alt. Damals, als tagelang ein wütender Mob vor einem Asylbewerberheim randalierte und ein Wohnheim für vietnamesische „Gastarbeiter“ in Brand steckte. Damals, als Hundertschaften von Polizisten und Tausende von Schaulustige dem Mob bei der Arbeit zuschauten. Sie alle hatten braunes Blut geleckt! Damals, als Politiker schmallippig die Taten verurteilten, um anschliessend lange Monologe über die vermeintlich überfremdete Republik von sich zu geben. Damals, als Bundestagsabgeordnete, übrigens fraktionsübergreifend, behaupteten, man müsse die Sorgen der Straße ernst nehmen. Damals, als sich die Politik zum Steigbügelhalter von Brandstiftern und Mördern machte. Damals, als schließlich der Artikel 16 unserer Verfassung beschnitten wurde.
Mein persönliches (Un-)Bild des Jahres war das eines Mannes, der betrunken, mit einer voll gepinkelten Jogginghose bekleidet und das Trikot der Nationalelf tragend, den Arm zum Hitlergruß hob – in Rostock-Lichtenhagen.
Dieses Bild ist Teil der Deutschland-Ikonographie meiner Generation geworden. Zuvor gab es bereits Bilder aus Hünxe und Hoyerswerda, wenig später aus Mölln, im Jahr darauf aus Solingen, jenem Ort, an den unser damaliger Bundeskanzler nicht reisen wollte, um, in die Augen der Angehörigen blickend, sein Beileid zu bekunden.
Das ist eine andere Zeitrechnung. Das ist ein anderes Deutschlandbild. Es hat all jene Deutsche und Migranten geprägt, die sich tatsächlich oder im übertragenen Sinne als Kanaken, Bimbos und Fidschis beschimpfen lassen mussten und weiterhin müssen. Egal, wie sie sich verhalten. Egal, was sie machen und erst recht egal, wie sehr sie sich bemühen, sich mit diesem Land zu identifizieren.
Deutsches Kontinuum der Xenophobie
Wenn man bedenkt, dass die Zwickauer Zelle bereits Mitte der Neunziger an ihren Plänen gesessen haben soll, dass 1999 Roland Koch Autogramme gegen „Ausländer“ sammelte, dass nach dem 11. September 2001 der gemeine „Muselmane“ in den Fokus einer immer unsachlicher geführten öffentlichen Diskussion rückte, die vor knapp anderthalb Jahren mit „Deutschland schafft sich ab“ ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, dann gibt es seit der Einheit ein vermutlich noch datenreicheres deutsches Kontinuum der Xenophobie, des Ressentiments und der Ablehnung als in den vierzig Jahren zuvor.
Islamkonferenzen, Integrationsgipfel, Einbürgerungstests, Wertediskurse und Extremismusklauseln wirken vor solch einem Hintergrund wie blanker Hohn.
Aus dieser Perspektive nimmt man 20 Jahre gesamtdeutsche Geschichte einfach anders wahr als die große Mehrheit! Übrigens schreibe ich hier nicht über ein ostdeutsches Problem, es betrifft alle deutschen Himmelsrichtungen.
Diese Republik kann in vielerlei Hinsicht stolz auf sich sein: Sie hat quasi über Nacht aus einem geteilten ein vereinigtes Land gemacht. Sie hat sich doch zumindest aus einem der vielen unsinnigen Kriege herausgehalten. Sie hat den bisherigen Höhepunkt der Finanzkrise ganz gut überstanden. Sie besitzt ein Rechtssystem, worum sich andere Staaten die Finger wund lecken. Sie hat eine Frau als Bundeskanzler, einen Rollstuhlfahrer als Finanz- und einen Schwulen als Außenminister.
Das alles lässt sich vor allem im tatsächlichen oder potentiellen Vergleich mit anderen Ländern ganz groß bejubeln. Wenn das Land aber nicht will, dass all diese Lorbeeren zum peinlichen Feigenblatt der deutschen Nachkriegsgeschichte verkommen, dann muss es anfangen, sich selbst ernster zu nehmen und die eigenen Ansprüche zum eigentlichen Maßstab machen.
Über den so oft bemühten Verfassungspatriotismus sollte nicht nur schwadroniert, er sollte gelebt werden. Und wenn es nur ein Patriotismus dem ersten Artikel gegenüber wäre. Erst wenn dies geschieht, kann man Politiker für voll nehmen, die behaupten, dass Integration keine Einbahnstraße sei. Dann wäre nämlich klar, dass dieser Satz für beide Seiten gilt. Für die Minderheiten wie auch für die Mehrheitsgesellschaft.
Wir und Ihr
Einschub:
– An dieser Stelle könnte mein Text eigentlich enden. Soll er aber nicht. Ich will Euch mitteilen, was bei mir hinter den Kulissen los ist. Wir können noch so viele Lichter gemeinsam zusammenketten, mahnend wachen, demonstrieren, diskutieren. Was bleibt, ist ein gefühlter Riss. Skepsis.
Was nützt der Aufstand der Anständigen, wenn es am Anstand der Rückständigen fehlt? Mein Kopf wehrt sich gegen den folgenden Satz, aber mein Bauch ist diesmal schneller, und ich weiß, dass es vielen so geht: Es gibt leider weiterhin ein Wir und ein Ihr. Jedem bleibt selbst überlassen, welchem Personalpronomen er sich im anschließenden Abschnitt zugehörig fühlt.
Willkommen in meinem Backstagebereich –
Wir wissen aber, dass das so schnell nicht passieren wird. Wir wollen und werden nicht mehr länger warten. Wir lassen uns nicht mehr durch Lippenbekenntnisse hinhalten.
Lange haben wir um etwas herumgetänzelt, geredet, debattiert, gejammert und uns zu Opfern stilisiert. Lange haben wir uns geweigert, etwas anzunehmen, was uns zwar nicht angetragen oder gar angeboten wurde, was aber Fakt war, ist und für immer bleiben wird. Ob es vielen von Euch oder von uns gefällt, spielt dabei keine Rolle. Wir werden unsere Identität vor uns hertragen, sie mit Würde präsentieren. Denn im Gegensatz zu den Ewiggestrigen können wir stolz sein auf das, was wir sind. Denn wir haben etwas dafür getan, es ist uns nicht in den Schoß gefallen. Wir sollten und sollen es nicht qua Geburt sein. Wir haben reflektiert, wir haben argumentiert, wir haben uns mit beiden Seiten bewusst auseinandergesetzt, wir waren deprimiert und euphorisiert. Wir haben konstruiert und Entscheidungen getroffen. Jetzt sollen es alle wissen: WIR ist Teil dieses Landes!
Wir werden kämpfen! Um Deutungshoheit, Definitions- und Gestaltungsmacht! Um Kunst, Kultur, Medien und Politik! Wir brauchen nicht Eure Anerkennung. Wir erkennen uns selber an! Wir lassen die Fremdbestimmung hinter uns und bestimmen selbst!
Vergesst „Migrationshintergrund!“ Seid einfach nur Grund! Ein einziger Grund! Ein Grund, dieses Land noch liebenswürdiger, noch vielfältiger, noch offener und tatsächlich verfassungspatriotisch zu machen!
Wer, wenn nicht wir?
Occupy Identity!