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„Plötzlich träumen alle wieder“

Von Max Benz-Kuch / 12. Juli 2024
picture alliance / SVEN SIMON | Anke Waelischmiller/Sven Simon

Die Leistungen der deutschen Männerfußballnationalmannschaft waren sechs Jahre lang bedauernswert. Bis zu diesem Sommer. Wo eine im eigenen Land ausgetragene Europameisterschaft mit Tristesse begann, sportlich unvollendet blieb und trotzdem mehr schaffen kann.

Ein Nebel aus Currywurst und Menschenmassen durchzieht den Glaskomplex, der sich über den Berliner Hauptbahnhof erstreckt, am Nachmittag des 14. Juni 2024. Keine Spur von Besonderheit. Dabei soll heute der Tag sein, an welchem der lang herbeigesehnte Befreiungsschlag aus der krisenschweren Gegenwart kommen soll. Gemeint ist nicht: mehr soziale Gerechtigkeit oder ein stärkeres Bewusstsein für Klimaschutz oder gar ein Heranreichen an den Weltfrieden. Nein, es geht tatsächlich (erstmal) nur um Fußball.

Ein Fußballturnier, wie es früher war

Seit der Weltmeisterschaft 2006 hat Deutschland kein Fußball-Großereignis mehr ausgetragen. 18 Jahre ist das retrospektiv als „Sommermärchen“ bezeichnete Turnier her. Solange, dass es nicht mal alle aktuellen Profispieler bewusst miterlebt haben.

Die Monate bei strahlendem Sonnenschein, die damals Massen über Massen das Gefühl eines Miteinanders in einem geeinten Deutschland gaben, werden noch heute hochgelobt. Sie gelten hierzulande als Maßstab für die Strahlkraft von Sport. Mit der Austragung der Europameisterschaft in diesem Jahr wollte man das wiederholen. „Europa soll durch dieses Turnier gestärkt werden“, gab Philipp Lahm, Turnierdirektor und Weltmeisterkapitän von 2014, in einem Interview mit der ZEIT zu verstehen.

Anlass zur Freude gab es für Fans der deutschen Männerfußballnationalmannschaft lange nicht. Historisch schlecht schafften die Titelverteidiger bei der WM in Russland 2018 nicht mal die Vorrunde. Ein sportlicher Ausrutscher, so die Annahme, entpuppte sich als eine sechs Jahre andauernde Pechsträhne. „Mutig und lösungsorientiert“ startete deshalb im Herbst des vergangenen Jahres ein – wieder mal – neues Trainerteam die Mission „Umstrukturierung“, die ein erfolgsgekröntes Heimturnier zum Ziel hatte.

Sehnsüchtige Stimmung

Wenige Stunden vor dem Anpfiff des Eröffnungsspieles – Deutschland gegen Schottland – bietet allein der Einzelhandel im Bahnhofsgebäude Auskunft darüber, dass nicht alles so gewöhnlich ist, wie es auf den ersten Blick scheint. In den Schaufenstern reihen sich Accessoires in Schwarz-Rot-Gold aneinander, „Super-Europameister-Angebote“. All das kostet mehr als üblich. Auch das ist eine Errungenschaft aus 2006: der (etwas ausgeartete) Fanartikelkonsum. Am Ausgang, der auf das Zentrum der bundesdeutschen Demokratie blicken lässt, spannt ein weltbekannter Brausehersteller seine Schwarz- auf Rot beschriebenen Schirme auf. Niemanden scheint das zu interessieren. Die Routen um den Stand herum ziehen lediglich an, weil Regen eingesetzt hat.

Draußen, auf der Wiese vor dem Paul-Löbe-Haus sind Bären aus Holz in den Nationalfarben der Teilnehmer-Länder nebeneinander platziert. „Soll symbolisch sein, für Berlin, die EM und vor allem, dass wir international sind“, ordnet ein Familienvater für seinen Sprössling ein. Zufällig positioniert ist diese Symbolik nicht. Einige hundert Meter weiter befindet sich die „Fanmeile“, ein Ort, der wie kein anderer für ein gemeinschaftliches Fußballerlebnis aller Fußballfans stehen soll, egal woher.

Schätzungsweise 50.000 Menschen sind beim Anpfiff dabei. Doch trotz sich immer mehr Trikots und zahmen Versuchen von Fangesängen will Begeisterung nicht so richtig aufkommen. „Was erwartet ihr euch vom Turnier?“, fragt eine bereits abgehetzte Jungjournalistin vom lokalen öffentlich-rechtlichen Sender eine Gruppe divers durchmischter Fans. „Einfach einen geilen Sommer“, antwortet der körperlich Größte. Seine Freunde nicken.

Mehr als das, wonach es aussieht

Zunächst gibt es außer Werbeclips chinesischer Großkonzerne oder Reiseempfehlungen in den Nahen Osten nichts zu sehen. Doch dann: Fußball. Tore von Lukas Podolski, Miroslav Klose und selbstverständlich das Tor schlechthin von Mario Götze. Ein paar Impressionen von Helden vergangener Tage und plötzlich ist es da, das Gefühl von: Hier passiert etwas ganz Besonderes. Gespräche werden unterbrochen, die Menge raunt, als Götze an den Ball kommt. All das bedarf keinem Kommentar, die Bilder genügen. Unter anderen Umständen wäre diese Stille beängstigend, doch gerade jetzt tut sie gut.

2006, kleb Podolski ins Panini-Heft

2010, häng nur (rum) auf Bolzplatz, nicht im Internet

2014, Autokorso, übern Ku´damm fahren

Im Club 2“21 flieg ich raus wie deutsche Fußballstars.“

Vor dem Brandenburger Tor erscheint ein Mann mit Skibrille in einem Podolski-Trikot der WM 2006 und unterbricht das ehrfürchtige Schweigen. Der jüngere Teil des Publikums tanzt und grölt mit. Für sie ist Podolski mehr Vergangenheit als Erinnerung. Der Rapper Ski Aggu, ein Berliner-Jung, der gern musikalisch thematisiert, was das Großstadtleben allerlei Unschönes mit sich bringt, schafft es, dass plötzlich nicht mehr nur jeder für sich ist. „Ich hab‘ davon immer geträumt, hier zu stehen. Das ist so unfassbar gut“, schwärmt der bekennende Fußballfan. Und dann beginnt um 21 Uhr tatsächlich das Spiel. Die deutsche Mannschaft präsentiert sich überraschend mutig, selbstbewusst und erfüllt die hohen Erwartungen.

Der Menge wird es einfach gemacht, sich mit dieser Mannschaft zu identifizieren. Überall schmerzverzerrte Gesichter, als Kapitän İlkay Gündoğan böse gefoult wird. „Freiheit für Kurdistan“-Schreie, als der Sohn kurdischer Einwanderer Emre Can eingewechselt wird und mit dem 5:1-Siegtreffer für Deutschland das Spiel beendet. „Völlig losgelöst“-Gesänge und strahlende Gesichter, als die Züge am Hauptbahnhof sich zu füllen beginnen. Jeder redet auf einmal wieder über den Fuß am Ball. „Gegen wen könnten wir denn im Achtelfinale spielen?“ „Wo schauen wir das nächste Mal?“ – Fragen, die essenziell erscheinen. Und dann genügen Feststellungen wie: Krass, plötzlich träumen alle wieder“.

Meisterhaft vereint

Weitere drei Spiele wird das so nochmal passieren. Bis im Viertelfinalspiel gegen Spanien Schluss ist. Leidenschaftlich und kämpferisch scheidet die deutsche Mannschaft aus dem EM-Turnier aus, das ihres hätte werden sollen. Doch eine Woche nach der Niederlage begreife ich: Dieses Turnier musste keine sportliche Meisterleistung werden.

„Wir haben es geschafft, die Menschen zu einen“, sagte Bundestrainer Julian Nagelsmann auf der Pressekonferenz nach dem Ausscheiden in staatstragender Manier. „Und ich hoffe, dass wir es auch nachhaltig hinkriegen, diese Symbiose in weit wichtigeren Bereichen des Landes fortzusetzen“, so Nagelsmann, der mit der Nationalmannschaft mal wieder titellos blieb und sich, wie seine Spieler den Tränen nahe, bitter enttäuscht zeigte. Doch wovon eigentlich? Es ist doch was gewonnen.

Für mich persönlich wird der Sommer 2006 immer einzigartig bleiben. Als damals Fünfjähriger verlor ich im April desselben Jahres meine Schwester bei einem Autounfall. In meiner Erinnerung gibt es keinen Übergang zwischen dem, was ich neben ihr auf der Rückbank erlebte und dem „Sommermärchen“. In der Kindergröße 128 trug ich das Trikot von Philipp Lahm und spürte während der Heim-WM zum ersten Mal wieder sowas wie Hoffnung.

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