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ProKlasse macht krank

Von Clara Reinhardt / 28. Juni 2024
picture alliance / Zoonar | Matej Kastelic

Alle klagen über Stress. Aber während die einen über eine Work-Life-Balance sinnieren und den nächsten Urlaub als Stressausgleich planen, können sich andere einen gesunden Spagat zwischen Arbeit und Auszeit, Anstrengung und Entspannung schlichtweg nicht leisten.

„Stress. Stress. Stress. Du atmest falsch“, hieß es auf einer Postkarte, die mir eine Freundin zuschickte, als ich einmal in der Klausurenphase im Stress verlorenging. Was bei mir einer besonderen Situation geschuldet war, ist bei anderen Menschen Folge der sozialen Klasse, der sie angehören: Es gibt Menschen, die in Stress hineingeboren werden, ihn qua Geburt nicht verlernen können.

Für Menschen, die von Armut betroffen sind, wird allein der Gang zum Supermarkt zum Stressfaktor: Mitrechnen, abwägen, dann doch zurücklegen. Obst und Gemüse sind oft teurer als ungesunde Lebensmittel. Mit welcher Gelassenheit ein Einkauf im Supermarkt stattfindet, hängt also mit der sozialen Herkunft und Klassenzugehörigkeit zusammen. Aufgrund dieser werden Menschen diskriminiert, abgewertet, ausgegrenzt und marginalisiert. Diesen spezifischen Ausschlusserfahrungen sind sie täglich auf diversen kulturellen, politischen, institutionellen Ebenen ausgesetzt. Bei Klasse geht es neben dem ökonomischen Kapital (z.B. Geldvermögen) auch um kulturelles (z.B. Bildungsabschlüsse) und soziales (z.B. Beziehungs-, Kontakte-, Netzwerk-Kapital). Klassismus existiert nicht in einem Vakuum, sondern ist mit anderen strukturellen Diskriminierungsformen wie Rassismus und Sexismus intersektional verbunden. Dies zeigt die jüngst veröffentlichte Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, wonach Menschen mit Migrationsgeschichte häufiger von Armut betroffen sind als Menschen ohne, und zwar unabhängig vom Bildungsniveau.

Klasse als stetig wachsendes Gesundheitsrisiko

Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Das kann man im Paritätischen Armutsbericht 2024 nachlesen. Insgesamt sind 16,8 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Bei der Gruppe der Alleinerziehenden erhöht sich die Prozentzahl auf 43, 2 Prozent. Dabei gilt als armutsgefährdet, wessen (Netto-)Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt.

Schaut man sich die Armutsrisikoquote an, die in den vergangenen Jahren allgemein gestiegen ist, dann wird die gesellschaftliche Herausforderung dieser Thematik besonders deutlich: Arme Menschen sind finanziellen Existenzsorgen ausgesetzt, haben begrenzten Zugang zu Wohnraum, Bildung und Gesundheit und gehören zugleich einer Gesellschaftsschicht an, die ohnehin all ihre Mitgliedern durch vielfältige Selbstoptimierungs- und Leistungszwänge  enorme Stressfaktoren zumutet. Für manche bedeutet das: noch mehr Stress obendrauf.

Dass sich das kurz- oder langfristig negativ auf die Gesundheit auswirkt, erscheint logisch. Menschen, die von Klassismus betroffen sind, sind einem Dauerstress ausgesetzt, ihr Kortisolspiegel ist, so die Studienlage, dauerhaft erhöht. Sie sind häufiger von chronischen Krankheiten, Unfallverletzungen und Behinderungen betroffen. Und Klassismus wird auch sichtbar, blickt man auf die allgemeine Sterblichkeitsrate: Wer in Stadtteilen mit Sozialbauten wohnt, hat eine im Durchschnitt um zehn Jahre geringere Lebenserwartung als jemand aus einem wohlhabenden Bezirk. Damit bestimmt soziale Herkunft den Gesundheitszustand einer Person und stellt gleichzeitig ein – stetig wachsendes – Gesundheitsrisiko dar.

Gesundheitsversorgung, Stress und Stressbewältigung

Das Gesundheitsrisiko „Klasse“ wird nur unzureichend aufgefangen. Die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist überwiegend ökonomisch organisiert das heißt der Zugang zu medizinischer Versorgung ist neben anderen Faktoren auch davon abhängig, ob man sich die Krankenversicherung leisten kann. Dem Mikrozensus 2019 zufolge waren rund 61.000 Menschen in Deutschland nicht krankenversichert, wobei Gesundheitsökonomen die tatsächliche Zahl von Menschen ohne Krankenversicherungsschutz in Deutschland sogar auf rund eine halbe Million schätzen.

Ein weiterer Aspekt ist der durch Klasse vermittelte psycho-soziale Stress: Jener Stress also, der sich im Gesundheitsverhalten widerspiegelt. Denn Stress muss kanalisiert, der Druck abgebaut, die „Luft aus den Reifen gelassen“ werden.  Diese notwendigen Bewältigungsstrategien begünstigen ein (Gesundheits-) „Risikoverhalten“. So greift eine sozial benachteiligte Person vielleicht eher zu Nikotin, Alkohol oder anderen Substanzen als eine Person, die über die nötigen sozialen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen verfügt, sich gesunder bzw. gesundheitsfördernder Formen der Stressbewältigung zu bedienen.

Darren McGarvey, schottischer Autor und Rapper, beschreibt diesen Umstand in seinem Buch „Poverty Safari“ so:

“It seems bizarre that we would ever attempt to draw conclusions about the behaviour of people in deprived communities, […] without allowing for the context of stress […] for people who live their lives constrained by emotional stress, anxiety or dread, such activities, while destructive in the long terms, offer a brief emotional reprieve.”  

(dt.: „Es scheint bizarr zu sein, dass wir überhaupt versuchen würden, Schlussfolgerungen zu ziehen über das Verhalten von Menschen aus benachteiligten Gruppen […] ohne den Kontext Stress mitzudenken […] denn Menschen, die eingeschränkt durch emotionale Belastung, Angstzustände oder Furcht ihr Leben leben – Zustände, die sich auf lange Sicht destruktiv auswirken – bieten sich nur kurze Momente emotionaler Entlastung.“)

Aus soziologischer Perspektive scheint der Blick auf das Gesundheitsverhalten allein fragwürdig. Gesundheitsvorsorge sei zum einen Selbstdisziplinierung und zum anderen eine Unterwerfung unter geltende Gesundheitsnormen, schreibt Daphne Hahn in ihrem Text „Prinzip Selbstverantwortung? Eine Gesundheit für alle?“ Das Gesundheitsverhalten vollziehe sich in sozialen Milieus und werde dabei von sozialen Normen geprägt. In manchen sozialen Gruppen werde statt einer Gesundheitsvorsorge – frei- oder unfreiwillig – eine alternative Option gewählt, weil in ihren Normgebilden diese Vorsorge nicht an erster Stelle stünde. Gleichzeitig warnt Hahn davor, dass das Urteilen über kollektives oder individuelles „risikoreiches“ Gesundheitsverhalten nicht dazu dienen dürfe, die Differenzen zwischen sozialen Milieus zu betonen und klassistische Herrschaftsverhältnisse zu reproduzieren.

Transformative Maßnahmen: Bildung- und Prävention allein reichen nicht

Um Lebenserwartungen für alle Menschen ähnlich definieren zu können oder zumindest gesundheitliche Risiken durch soziale Strukturen abzubauen, bedarf es nicht allein Präventions- und Bildungsarbeit. Davon weicht der Klassenstress nicht zurück.

Es setzt sich in der Forschung die Erkenntnis durch, dass es transformative Maßnahmen erfordere, die an den Verhältnissen selbst ansetzen, um dem sozialen Dauerstress und seinen Folgen entgegenzutreten. Wie Anna Mayr in „Die Elenden“ formuliert, reicht Bildung allein nicht aus, um soziale Missstände zu beheben. „Es hilft nicht, abends Foucault zu lesen, wenn man nachts nicht schlafen kann. Texte können die Welt nur begreifbar machen. Um die Welt zu verändern, braucht man Politik.“



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