DebatteDer Musterimmigrant in Lederhosen
Der Begriff der Leitkultur ist hochaktuell. Emotionale Diskussionen zeugen von der Angst vor einem Wertewandel in Zeiten der Zuwanderung. Eine deutsche Leitkultur soll Orientierung bieten. Aber was ist Leitkultur überhaupt?
Das hatte sich Friedrich Merz gewiss anders vorgestellt. Mit einem Beitrag anlässlich der Änderung des Einwanderungsparagraphen beförderte sich der konservative Politiker im Millenniumsherbst nicht nur in eine Reihe mit „Hartz IV“, „Heuschrecken“ und „Herdprämie“ – allesamt „Unwörter des Jahres“. Auch führte Merz mit dem Begriff der Leitkultur in eine Debatte ein, die noch Jahre später emotional geführt wird.
Kultur? Schwer zu definieren!
In Zeiten massiver Zuwanderung ist die Leitkultur, die sich aus dem Verb leiten und dem schwer definierbaren Nomen Kultur zusammensetzt, hochaktuell. Dabei war es nicht Merz, der den Begriff prägte, sondern zuvor der deutsch-syrische Politikwissenschaftler Bassam Tibi. Er wollte beschreiben, wie Integration über die Akzeptanz gesellschaftlicher Normen bei gleichzeitiger Bewahrung der eigenen Kultur gelingen kann.
Anstoß der Diskussion im Jahr 2000 war die Entscheidung, einer muslimischen Lehramtsanwärterin die Einstellung in den Schuldienst zu verweigern. Der Grund: ihr Kopftuch. Der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm benutzte das Wort erstmals in einem Interview mit der Berliner Zeitung, Merz griff es später auf und konkretisierte die Leitkultur zur „freiheitlich demokratischen Leitkultur“.
Einwanderung braucht Identität
In seinem Buch „Europa ohne Identität“ skizziert Politikwissenschaftler Tibi den Sinn einer Leitkultur, die als „Wertekonsens zwischen Deutschen und Migranten“ für eine erfolgreiche Integration benötigt werde. Dabei unterscheidet Tibi zwischen Einwanderung und Zuwanderung. Während Zuwanderung eine Aussage über den geographischen Ortswechsel ist und keine Anerkennung von Werten voraussetzt, ist Einwanderung für Tibi nicht „wildwüchsig“, sondern „gesteuert“. Für eine erfolgreiche Integration bedürfe es einer gemeinsamen Identität, die über den reinen Gesetzesgehorsam hinausgehe.
Was ist nun die gemeinsame Identität – oder eben Leitkultur? Kann friedlich nur zusammenleben, wer Bekenntnis zu Goethe und Schiller, dem Tragen von Lederhosen auf dem Oktoberfest und dem patriotischen Singen der Nationalhymne zum Fußballländerspiel ablegt? Schon Deutschen fällt das oft schwer – eine Integration gemessen an diesen Maßstäben wäre unmöglich.
Leitkultur vs. Grundgesetz
Im Kern der Debatte um die Leitkultur steht, ob das Grundgesetz nicht als Leitkultur ausreicht. Diese Frage lässt sich nicht abschließend beantworten. Verfassungstreue, also die Bekenntnis zum Grundgesetz, ist im deutschen Rechtssystem angelegt und auch ohne Leitkultur laut Tibi indiskutabel. Was Leitkultur darüber hinaus sei, müsse sich in einer gesellschaftlichen Diskussion herauskristallisieren.
Mit seiner „freiheitlich demokratischen Leitkultur“ lieferte Merz einen ersten Entwurf. Er stellt den Respekt vor der Frau in den Mittelpunkt, aber auch Werte wie die Religionsfreiheit und Toleranz. Als Grundvoraussetzung für die Integration nennt er die Kenntnis der deutschen Sprache – ein Angriffspunkt vieler Kritiker – und somit Werte, die über die im Grundgesetz festgeschriebenen Paragraphen hinausgehen.
Das Grundgesetz scheint mit dem Begriff der Leitkultur teilweise sogar zu konkurrieren. Es beinhaltet in Artikel 3 den Schutz von Minderheiten und verhindert das Aufoktroyieren bestimmter Werte. Laut Tibi benötige jedoch eine sowohl monokulturell als auch kulturell vielfältige Gesellschaft „eine Art innere Hausordnung“, die Integration erst möglich mache.
Für Tibi enthält die Leitkultur gerade jene Werte, die „kulturübergreifend Gültigkeit“ haben. Vorne dabei: Vernunft vor religiöser Offenbarung, individuelle Menschenrechte, Trennung von Religion und Politik, Demokratie sowie Toleranz.
Den Wertewandel beachten
Wird die Leitkultur als Bekenntnis und Anerkennung hierzulande gelebter Werte betrachtet, ist auch der Wandel dieser Werte zu diskutieren. Dass die Zuwanderung Einfluss auf diese Werte nimmt, ist unstrittig.
Während die oben beschrieben Grundsätze keine neuen sind, ihren humanistischen Ursprung unter anderem in der Zeit der Aufklärung haben und in europäischer Tradition stehen, ist längst eine Diskussion im Gange, welche Werte heute wichtig sind.
So zeigen Studien, dass der Wertewandel in Richtung einer zunehmenden Individualisierung fortschreitet. Nicht mehr traditionelle Lebensweisen sind jungen Menschen wichtig, sondern die Kreation eigener Lebensstile. Dieser Wertewandel bemisst sich an freiheitlichen Maßstäben. Das ist der gemeinsame Nenner, der bestehen bleibt – die Leitkultur.
„Die Kultur des Verfassungsstaates ist offen für den Wertewandel“, sagt auch Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer. „Die Freiheit der Kultur richtet sich nicht gegen die Bewahrung kultureller Traditionen. Sie schafft den politischen Rahmen für eine ständige kritische Überprüfung ihrer Geltung und verbessert die Chancen für kulturelle Vielfalt und Tradition.“
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