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ContraDie Mär von der deutschen Leitkultur

Von Steffen Haake / 18. Juli 2016
picture alliance / Lutz P. Kayser | Lutz P. Kayser

Der Begriff Leitkultur geistert seit knapp zwanzig Jahren durch den politischen Diskurs. Politiker rechts der Mitte geben sich größte Mühe, das Narrativ einer überlegenen deutschen Kultur zu konstruieren. Aber wer bestimmt, was die Leitkultur sein soll?

Leitkultur funktioniert in der pluralistischen Gesellschaft Deutschlands nicht, und das ist auch gut so. Schon Deutschland als Konzept ist ein künstliches Konstrukt. Sicherlich gibt es gewisse historische Kontinuitäten vom Deutschen Bund, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation über das unselige Deutsche Kaiserreich und das Großdeutsche Reich, von dem mit Abstand am meisten Schrecken ausging. Diese Geschichte scheint aber weniger eine von kultureller Überlegenheit zu sein als eine der (Welt-)Kriege und des Kolonialismus.

Als Nationalstaat besteht Deutschland noch nicht lange. Neben der gefahren-potenzierenden Idee der Konzepte Volk und Nation ist es daher schwierig, von einem deutschen Volk zu sprechen. Nicht ohne Grund wurde die Losung am Giebel des Reichstages „Dem Deutschen Volke“ in der modernen Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung um die Losung „Der Bevölkerung“, einem Kunstwerk von Hans Haacke im Innenhof des Parlaments, aktualisiert. Diese Schrift liegt auf der Erde, die Abgeordnete aus allen Bundesländern gebracht haben. Aus ihr sprießen wilde Pflanzen, ein Symbol für Deutschlands pluralistische Bevölkerung.

Verbundenheit mit der Heimat kann in Zeiten globaler Veränderungen für Orientierung sorgen. Sich als Ostfriese zu sehen und sich für sein Umfeld zu engagieren, ist aber etwas völlig anderes als die Annahme, die eigene Kultur sei überlegen und damit eine Leitkultur. Im Gegenteil: Wer mit sich und seinem Umfeld im Reinen ist, braucht nichts durch Überlegenheitsgehabe kompensieren.

Bunte Bundesrepublik inmitten der EU

Statt eine Leitkultur durchzudrücken, muss es darum gehen, regionale Traditionen zu bewahren und gleichzeitig offen für Neues zu sein, denn Neues ist eine Chance. Deutschland ist ein Zuwanderungsland und profitiert neben dem ökonomischen Aspekt ungemein von der durch Zuwanderung entstehenden kulturellen Vielfalt. Kultur ist immer ein wechselvoller Prozess des gegenseitigen Austauschs. Besonders Kulturschaffende lassen sich in anderen Ländern inspirieren.

Eben weil von Deutschland und seinem Nationalismus viele Verbrechen ausgegangen sind, ist die deutsche Bevölkerung prädestiniert dafür, sich neben pluralen lokalen Identitäten auch eine europäische Identität zuzulegen. Es ist an der Zeit, Kleinstaatereien zu überwinden und als EU gemeinsam in die Zukunft zu steuern. Aber leider ist die EU aktuell weit davon entfernt.

Wenn es aber doch so etwas wie eine deutsche Leitkultur gäbe oder geben müsste, dann sollte sie für die moderne Bundesrepublik inmitten der EU idealerweise eine Art Verfassungspatriotismus auf das Grundgesetz und rechtsstaatliche Werte beinhalten. Doch diese haben nicht einmal alle Deutschen“ verinnerlicht: Pegida, AfD, rechte Bands und andere rechte bzw. rechtspopulistische Gruppierungen erhalten immer mehr Zuspruch.

Mythos Leitkultur und die Union

Auf die öffentliche Tagesordnung kam der Begriff Leitkultur in den 2000er Jahren durch den damaligen Unions-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz. Kanzler Helmut Kohl war abgewählt und durch den CDU-Spendenskandal, in dessen Sog es auch den CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble zog, moralisch demontiert worden. Die Union war inmitten der Selbstfindung.

In der hausgemachten Vertrauenskrise der Konservativen wurde das Augenmerk auf vermeintlich deutsche Tugenden, an denen es Migranten angeblich mangele, gelenkt. Der urkonservativen Forderung nach „Werten“ stand der neoliberale Zeitgeist der politischen Eliten gegenüber. Merz forderte, mehr Kapitalismus zu wagen. Die Union trieb durch ihre Bundesratsmehrheit neoliberale Reformen mit voran.

Dieser Widerspruch ist es, der die Forderung nach der Leitkultur unglaubwürdig macht: Einerseits wird von Migranten gefordert, angebliche Werte zu übernehmen. Gleichzeitig werden diese Werte, wie beispielsweise die des Sozialstaats und der gerechten Steuerpolitik, zurückgedrängt. Im Rahmen der Globalisierung wird der Wohlfahrtsstaat als vormalige Leitplanke demontiert und mehr Eigenverantwortung gefordert. Durch die Kürzung von Sozialleistungen und die einhergehende Individualisierung wird aber mitnichten Integration erreicht.

Perversion des Neoliberalismus

Diese Politik hat auch zum Erstarken der AfD beigetragen. Denn die AfD ist eine Art janusköpfige Perversion des Neoliberalismus: Ein Sammelbecken für Forderungen sowohl nach weitreichendem Abbau staatlicher Regulierung in wirtschaftlichen Fragen als auch nach Law-and-Order-Regulierung in gesellschaftlichen Fragen.

Heute sind es hauptsächlich jene in ihrer Welt aus Facebook-Shitstorms lebenden, die nach einer deutschen Leitkultur schreien. Auch wenn sie recht erfolgreich darin sind, soziale Netzwerke wie Biotope zum Umkippen zu führen, bedeutet das nicht, dass sie für die Mehrheit sprechen. Denn für diese verkörpern hasserfüllte Internetkrieger sicherlich keine deutsche Leitkultur.

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Debatte | Der Musterimmigrant in Lederhosen

Pro | Einigkeit und Recht und Freiheit



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