ContraDigital ist dope
Lesen bildet. Darüber sind sich wohl die meisten Menschen einig. Wie man aber „richtig“ liest, dazu gibt es sehr unterschiedliche Ansichten – darunter ziemliche absurde.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, dann lesen Sie sie digital. Keine Sorge, das macht Sie weder zu einem schlechteren Menschen, noch zu einem schlechteren Leser – ganz im Gegenteil. Zum Aufwärmen der Äuglein dennoch zunächst eine kurze Anekdote – für einen Teil des Publikums ist das Lesen am Bildschirm ja so anstrengend.
Wer Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine Eisenbahn bestieg, musste damit rechnen, dass die wahnwitzige Geschwindigkeit von 30 km/h das Gehirn deformiert. So jedenfalls die Meinung der damaligen Mediziner. Heute ist es nicht wesentlich anders, pseudoromantisch verblendete Technophobiker warnen allerorten: Computerspiele machen aggressiv und dumm, soziale Medien verhunzen die Rechtschreibung, Smartphones verursachen unweigerlich Krebs. Und, der Klassiker: Auf digitalen Bildschirmen ist es schlicht unmöglich, „richtig“ zu lesen.
Zwischenfazit: Neuerungen machen Angst. Und besonders viel Angst machen offenbar technische Neuerungen. Dabei verstellt die Angst die Sicht auf Vorteile, die digitales Lesen mit sich bringt.
Angst versus Wissen
Digitales Lesen ist praktisch! Auf einem Reader lassen sich weit mehr Bücher speichern als Marcel Reich-Ranicki in seinem Leben wohl je gelesen hat. Weitere Vorteile: Digitale Texte können besser archiviert, durchsucht und besser mit erklärenden Querverweisen versehen werden – gerade bei anspruchsvollen oder fremdsprachigen Texten ein überaus hilfreiches Feature.
Digitales Lesen ist umweltverträglich! Für ein E-Book muss kein Baum gefällt, kein Papier transportiert, chemisch gebleicht oder bedruckt werden. Klar, wer E-Books produziert oder liest, benötigt dazu ebenfalls Strom – im Vergleich zum klassischen Buch jedoch nur so wenig, dass die Umweltbelastung fast irrelevant ist.
Digitales Lesen ist demokratisch! Dass E-Books keine physischen Güter sind, schont nicht nur die Umwelt. Denn E-Books sind deutlich günstiger als zusammengeklebte Stapel Zellstoff-Carpaccio. Aus diesem Grund können sich auch ärmere Menschen Literatur leisten. Das gilt zwar (noch) nicht für zeitgenössische Belletristik, doch das könnte sich schnell ändern. Darüber hinaus ist es für Diktaturen deutlich schwerer, digitale Texte zu zensieren, wie das Beispiel Nordkorea zeigt. Dort verteilt die NGO Human Rights Foundation USB-Sticks mit verbotenen Filmen, Serien und E-Books aus Südkorea. Das nordkoreanische Regime scheint sich durch die unkontrollierbare Existenz der regimefeindlichen USB-Sticks durchaus angegriffen zu fühlen – und droht damit, das New Yorker Büro von Human Rights Foundation zu bombardieren.
Digitales Lesen ist ungefährlich! Die Argumente gegen neue Medien und Rezeptionsweisen wiederholen sich – und das seit Jahrhunderten. Lediglich die Medienform variiert. Denn im Rückblick stellt sich heraus: Kommt ein neues Medium auf, wird dieses attackiert – sei es der Roman im späten 18. Jahrhundert („Lesesucht“), die Verbreitung von TV-Geräten in den Fünfzigern („Fernsehsucht“) oder eben das digitale Lesen heute. Das liegt vermutlich nicht an den neuen Medien. Eine bessere Erklärung: die Angst.
Nackt im Altpapier-Container
Wer nun immer noch sagt: „Aber Bücher sind so… kultig! Der Geruch! Und sie fühlen sich doch so gut an!“, der oder die möge doch großzügig dieses Buch-Parfüm auftragen, sich nackt in den nächsten Altpapier-Container kuscheln und dort seine oder ihre Furcht vergessen.
Ein häufiges Argument gegen E-Books hebt darauf ab, dass Kunstwerken ein gewisser Respekt gebühre, der sich in einem wertigen Trägermedium widerspiegeln sollte. E-Books empfinden viele Menschen grundsätzlich als minderwertigen Ramsch, als Taschenbuch-Ausgabe der Taschenbuch-Ausgabe. Der simple, wohl zu simple Gedanke dahinter ist offensichtlich: Wertvolle Literatur wird gedruckt und Gedrucktes ist wertvolle Literatur, was natürlich uneingeschränkt unzutreffend ist.
Tatsächlich gibt es jedoch Bereiche, in denen E-Books eher schlecht abschneiden. Beliebtestes Beispiel: Die internationale Studie der Initative E-Book, laut der LeserInnen sich die Inhalte gedruckter Texte besser merken können als bei ihren digitalen Pendants. Das mag stimmen. Was jedoch ebenfalls stimmt: Die meisten LeserInnen möchten einen Roman nicht auswendig lernen, sondern genießen.
Zum Schluss: Versöhnung?
Diese letzte Feststellung weist auf einen wichtigen Aspekt hin: Niemandem ist geholfen, die Frage nach der „richtigen“ Lektüre global, endgültig und absolut beantworten zu wollen. Viel zu unterschiedlich sind die unterschiedlichen Textsorten, LeserInnen und Situationen. Beispielsweise eher ärgerlich: ein monatealter Stapel Tageszeitungen. Dagegen eher erfreulich: eine Schmuckausgabe von Arno Schmidts Zettels Traum. Doch letztlich sind auch solche Differenzierungen vergebene Lese- und Liebesmüh. Wer gerne digital liest, soll digital lesen. Wer gerne analog liest, soll analog lesen. Auf eines können wir uns aber vielleicht einigen: Never judge a book by its (digital) cover.
Lies weiter bei…
Bin mal kurz im Altpapiercontainer, meine Augen sind schon ganz rechteckig 😉