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DebatteSein und wollen

Von Danilo Rößger / 15. April 2016
picture alliance / Maximilian Schönherr | Maximilian Schönherr

„Sei einfach du selbst.“ Die Umsetzung dieses Ratschlags ist nicht nur anspruchsvoll, sondern paradoxerweise auch stets abhängig vom eigenen Umfeld. Selbstbestimmung ist in diesen Zeiten relevanter denn je.

Seit der Antike zerbrechen sich Gelehrte den Kopf darüber, was das Selbst auszeichnet. So begriff schon Aristoteles das Wissen über das eigene Selbst als Voraussetzung und Grundlage des menschlichen Handelns.

Wer auf die Frage „Wer bin ich?“ aus dem Stegreif eine Antwort findet, sollte sich mit dem Konjunktiv befassen: „Wer möchte ich sein und wie kann ich das umsetzen?“ Für die meisten Menschen ist das gar nicht so einfach zu beantworten – doch in Zeiten von Selbstoptimierung, Selbstständigkeit und Selbstverantwortung werden Antworten fällig.

Der zivilgesellschaftliche Diskurs über die Entfaltung der eigenen Bedürfnisse ist jünger, als man vermuten mag. So fand der Historiker Paul Kluke heraus, dass sich in deutschen Wörterbüchern und Lexika noch Ende des 19. Jahrhunderts keinerlei Informationen zum Begriff der Selbstbestimmung entdecken ließen.

Erst zur Zeit des Ersten Weltkriegs wurde Selbstbestimmung thematisiert, jedoch zunächst lediglich im Zusammenhang mit politischem Bewusstsein. „Selbstbestimmung“ war der Widerstand gegen äußere Zwänge im Sinne fremdnationaler Einflussnahmen. Dennoch ebnete diese Debatte den Weg für weitere Diskussionen über die Selbstbestimmung.

Die Entwicklung fand ihren Höhepunkt in der Sozial- und Künstlerkritik der 68er-Bewegung, die ganz konkret eine Selbstbestimmung und -verwirklichung des Einzelnen im Rahmen des gesellschaftlichen Systems forderte. Seitdem reißt der Ruf nach Individualität nicht ab, sodass Musik, Filme und selbst die Werbung lautstark „Be yourself!“ verkünden.

Nach eigenen Gesetzen handeln, aber wie?

Für den französischen Soziologen Luc Boltanski geht die Selbstverwirklichung im Sinne der 68er-Bewegung mit der Entwicklung der eigenen Kreativität einher. Diese ist gegenwärtig leichter möglich als in den vergangenen Jahrzehnten: Die Grenzen der Welt verschwimmen zusehends, soziale Netzwerke gedeihen online und offline, Menschen wachsen zusammen und Ideen befruchten sich gegenseitig.

Auf der anderen Seite erfordern diese Begebenheiten ein hohes Maß an Anpassbarkeit und Flexibilität. Selbstbestimmung kann ein Motor für das Zustandekommen individueller Artefakte sein, aber sie ist vor allen Dingen harte Arbeit am eigenen Selbst – und nicht selten mit Risiken verbunden. „Die Selbstverwirklichung erfordert das Engagement in Aktivitäten und Projekten, deren vorübergehender und uneinheitlicher Charakter das Selbst der Gefahr des Wesensverlusts aussetzt“, so Boltanski.

Neben der Unstetigkeit der vernetzten Welt kann auch die moderne Wertegemeinschaft hinderlich für ein selbstbestimmtes Leben sein. So spricht der Psychologe Stephan Grünewald von einem in Deutschland vorherrschenden „Effizienzdiktat“. Gemeint sind „abstrakte deutsche Tugenden wie Fleiß, Kontrolle und Disziplin, die Bereitschaft zur Überbetriebsamkeit bis hin zum Burnout“. Diese rational-ökonomischen Parameter seien notwendig, damit sich die Nation im globalen Wettbewerb überhaupt behaupten könne. Individuelle Fähigkeiten wie Phantasie und Kreativität spielten dabei gar keine Rolle mehr, da sie nicht objektiv messbar seien. Doch was ist schon ein Mensch ohne Phantasie?

Tausche Selbstbestimmung gegen Funktionalität

Es scheint, als ob „Individualität“ und „Sicherheit“ in der modernen Welt zwei Pole sind, die wir in Einklang miteinander bringen müssen, damit sich ein gesundes Selbst entwickeln kann. Jedoch fand Grünewald in tausenden Patientengesprächen heraus, dass sich nicht wenige für den Weg des geringsten Widerstandes entscheiden.

Anstatt auf die eigenen Bedürfnisse zu hören, stürze man sich lieber in einen automatisierten Alltagsablauf und wähne sich in der scheinbaren Sicherheit der Routine. Auch der tschechische Ökonom Tomáš Sedláček beschreibt in seinem Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“ diesen Zustand der „Seelenlosigkeit“ und empfiehlt dringend, sich davon zu befreien, um dem eigenen Leben einen Sinn und Zweck verleihen zu können.

Vom Suchen und Finden des Selbst

Für den Berliner Philosophen Volker Gerhardt ist Selbstbestimmung unter anderem die Fähigkeit, „so zu handeln, wie man es von einem Menschen mit einem eigenen Standpunkt erwartet“. Womit wir beim eigentlichen Knackpunkt sind: Kaum jemand möchte bestreiten, einen eigenen Standpunkt zu haben. Es ist eben nur nicht einfach, ihn immer für sich selbst zu definieren und nach außen zu tragen.

Zweifelsohne ist dies ein nicht zu unterschätzender kognitiver Aufwand, aber in jedem Fall ein großer Schritt, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das Potential, individuelle Autonomie durchzusetzen, ist gegenwärtig größer denn je. Dessen muss man sich nur bewusst sein.

Lies weiter bei…

Contra | Warum wir selten selbst bestimmen

Pro | Die Fäden in der Hand



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