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ProDer Westen wankt

Von Marlene Thiele / 8. Juli 2016
picture alliance / Zoonar | Cigdem Simsek

Viele Länder der sogenannten westlichen Welt gelten als Wertegemeinschaft. Dabei geht es auch um die Überzeugung, länderübergreifend für eine gemeinsame gute Sache zu arbeiten. In letzter Zeit ist viel von dieser Überzeugung verloren gegangen. Das Brexit-Referendum ist nur die Spitze des Eisbergs.

Großbritannien verlässt die Europäische Union – dafür hat sich die britische Bevölkerung ausgesprochen. Als die Entscheidung bekannt wurde, fiel das britische Pfund auf den tiefsten Wert seit 1985, weltweit stürzten die Aktienkurse ab. Traditionell reagiert die Wirtschaft sehr sensibel auf politische Veränderungen. An ihr lässt sich ablesen, wie sehr der Brexit die Welt aus dem Gleichgewicht gebracht hat.

Erschüttert zeigten sich auch Politiker und Bürger in vielen Staaten Europas und auf der ganzen Welt. Im Grunde ist der Brexit nämlich mehr als die Entscheidung eines einzelnen Volkes, sich in Zukunft auf sich selbst zu konzentrieren: Er zeigt, dass die westliche Wertegemeinschaft immer mehr an Gemeinsinn verliert.

Rechtsruck in vielen westlichen Ländern

Nachdem viele westliche Länder über Jahrzehnte immer mehr zusammengerückt sind, um die Idee einer besseren Welt gemeinsam voranzubringen, konzentrieren sie sich nun wieder auf das eigene Land und Volk. Getreu dem Motto „Make America Great Again“ verfolgt zum Beispiel Donald Trump diesen Kurs. Es funktioniert: Eine Mauer an der Grenze zu Mexiko gegen illegale Immigration und Einreiseverbote für Muslime scheinen die Wähler zu überzeugen – obwohl der Immobilienmogul keinerlei politische Erfahrung hat, konnte Donald Trump sich als Präsidentschaftskandidat für die Republikaner aufstellen lassen.

Das Pendant zum US-amerikanischen Rechtsruck findet sich in vielen Ländern Europas. In Frankreich wurde der rechtspopulistische Front National in der ersten Wahlrunde der vergangenen Regionalwahl in fast der Hälfte der Regionen stärkste Partei. Das Konzept der Partei ist die nationalistisch organisierte Bevorzugung der Franzosen gemäß dem Leitspruch „Les Français d’abord“ („Franzosen zuerst“). Die deutsche AfD fordert eine „geordnete Auflösung des Euro-Währungsgebietes“, um mit der Rückkehr zur D-Mark wieder das landeseigene Süppchen zu kochen.

In Polen hat die kürzlich gewählte rechtspopulistische Ministerpräsidentin Beata Szydlo kurzerhand die Gewaltenteilung aufgehoben. In Großbritannien merken die Briten inzwischen, dass die Versprechungen für einen Austritt aus der EU keinesfalls haltbar sind. Viele Wähler waren nicht informiert genug, um zu wissen, wogegen sie eigentlich rebellierten – die Definition der EU dürfte vielen unklar gewesen sein.

Die EU macht aus den gemeinsamen Werten vertraglich festgelegte Regeln

Was ist die EU eigentlich? Zunächst ist sie ein Wirtschaftsbündnis und eine politische Gemeinschaft, gegründet wurde sie aber vor allem, um auf dem kriegserschütterten Kontinent dauerhaften Frieden zu sichern, indem die beteiligten Ländern sich auf die gemeinsamen Werte berufen. Im Vertrag von Lissabon sind diese Werte festgehalten: Sie sind „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Für die EU-Mitgliedsländer sind aus den gemeinsamen Werten vertraglich festgelegte Regeln geworden. Als 2010 die Euro-Krise ins Rollen geriet, mussten gemeinsam Rettungsmaßnahmen beschlossen werden. Bei einem Teil der Bevölkerung entstand damals Unmut. Viele Menschen sahen vor allem die vermeintliche Raffgier anderer und fühlen sich unrechtmäßig zur Kasse gebeten.

Nationalstaatliche Vorteile wichtiger als der westliche Gemeinsinn

Noch bildlicher wurde es mit der Flüchtlingskrise. In diesem Fall besteht das Konzept länderübergreifender Solidarität nicht bloß aus Zahlen auf Bildschirmen, sondern zeigt sich durch vom Krieg gezeichnete Menschen. Die fand manch ein Rechtskonservativer gar nicht passend in der kleinbürgerlichen Idylle seiner Dorfgemeinschaft.

Der Unmut war und ist groß und selbst die Politik hat sich an vielen Stellen gebeugt: Der Flüchtlingsstrom nach Europa ließe sich gut bewältigen, legte man nur einen Schlüssel fest, um die Flüchtlinge gerecht zu verteilen, hieß es. Hier endet der Gemeinsinn der westlichen Wertegemeinschaft: Die Regierungen weniger Staaten gehen an die Grenzen ihrer Kapazitäten, um das Flüchtlingsproblem zu lösen. Andere Länder bedauern zwar die Situation der Flüchtlinge, möchten sie sich aber nicht auf die eigene Agenda schreiben. Nationalstaatliche Vorteile werden wichtiger als der Gemeinsinn.

Die westliche Wertegemeinschaft ist aus der langen, gemeinsamen Geschichte entstanden – einschließlich Krieg, Sklaverei und Diskriminierung. Eine historische Entwicklung ist natürlich nie vollendet. Nun wackelt das Konzept aber, als begänne es, sich aufzulösen.

 

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