DebatteFehlt es Sozialen Medien an Privatsphäre?
In Form von Fotos und Videos stellen wir so ziemlich alles ins Netz: emotionale Momente und beeindruckende Motive. Oft ohne groß nachzudenken. Manchmal mit unerwünschten Konsequenzen. Viele fordern darum, allzu Privates und Intimes nicht mehr einfach so mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Wer würde widersprechen? Letztlich geht es darum, Anerkennung und Likes zu erhalten. Dabei stellt sich mitunter Fremdscham ein, wenn Leute ihre intimsten Angelegenheiten ungeniert und unbedarft mit der Öffentlichkeit teilen.
„Schamlos“ um die Welt? Mit einem Post
Über welche Größenordnung reden wir? Facebook verzeichnet 300 Millionen veröffentlichte Fotos pro Tag, die Gesamtzahl aller monatlich aktiven Nutzer beträgt rund zwei Milliarden und der „Gefällt mir“-Button wurde insgesamt mehr als 1,13 Trillionen Mal geklickt. Auf Instagram sind es (noch) weit weniger. Hier teilen sich weltweit mehr als eine Milliarde Menschen aktiv mit, davon rund 500 Millionen täglich. In Deutschland nutzen mehr als 15 Millionen Menschen Instagram, 60 Prozent davon sind in ihren Zwanzigern. TikTok ist stark auf dem Vormarsch mit etwa 1,7 Milliarden Usern, vor allem aus der Generation Z. Insgesamt 41 Prozent der 18- bis 24-Jährigen nutzen die Video-App und das durchschnittlich 95 Minuten täglich.
Gepostet und teilweise inszeniert wird nahezu alles, was uns im Alltag begegnet oder widerfährt, von Katzenbabys bis hin zu Szenen aus dem Bade- oder Schlafzimmer. In vielen Debatten wird darum immer öfter gefragt: Muss das sein? Was bleibt besser privat? Oder andersherum formuliert: Wieviel Intimes verträgt die Öffentlichkeit?
Einfach nur peinlich?
Fremdschämen, auch bekannt als „Cringe“, hängt jeweils von der subjektiven Bewertung oder Einstellung ab, beschreibt jedoch allgemein das Gefühl, sich stellvertretend für peinliches Verhalten anderer zu schämen. So geschehen bei dem als besonders abstoßend empfundenen Post auf Facebook: „Verdammter Durchfall. Das ist mein angestrengtes Kackgesicht.“ Bei Instagram geht es – trotz Wurstwerbung – ähnlich geschmacklos zu: mit „Bifi in der Badewanne“-Foto.
Einige Posts entstehen im Affekt, aus einer Laune heraus, wohingegen der Cringe gezielt eingesetzt wird, um sich darüber lustig zu lachen, wie „daneben“ sich andere verhalten. So zeigt beispielsweise TikTok die Videoaufnahme eines Mannes, der „vor seiner Frau in den Pool geschissen hat.“ Das wurde schnell als Fake entlarvt. Bezeichnend ist, dass auch hier bewusst die Grenzen des „guten Geschmacks“ überschritten wurden, um Reichweite zu generieren.
Mehr Informationen für mehr Nähe?
Warum verbreiten wir solche Geschmacklosigkeiten oder eben intime Details auf Social Media? Geht es nur darum, Aufmerksamkeit zu erregen – egal zu welchem Preis? In jedem Falls fehle es an Balance zwischen Privatsphäre, Offenheit und Veröffentlichung, so die Kritik.
Nora Hausschild ist Psychologin und nennt verschiedene Gründe dafür, warum wir mehr preisgeben als wir vielleicht eigentlich wollen. „Mitunter hat man das Bedürfnis, Geborgenheit durch Beziehungen einzugehen oder neue, vertrauensvolle Freundschaften zu knüpfen.“
Indem wir Informationen über uns selber teilen, wollten wir auf einfache Weise zügig eine gewisse Nähe herstellen, erklärt Hausschild. Sogar in traurigen oder schwierigen Situationen. „Indem wir auf Social Media posten, eröffnet sich uns die Möglichkeit, Trost und Zuspruch zu erhalten. Viele Menschen versuchen, auch die eigene Unsicherheit dadurch zu überspielen, dass sie sich locker und entspannt in ihrem privaten Umfeld zeigen.“ Und: Wer Zuspruch bekommt, erscheint wichtig. Im Rampenlicht zu stehen, steigere bei vielen das Selbstwertgefühl, weiß die Psychologie.
Der Mensch, das Herdentier
Durch die Vernetzung mit Freunden und der Familie auf verschiedenen Medienkanälen gibt es überdies einen Hang zum „Oversharen“: viel, oft und auch krassen Inhalt teilen, um Feedback und dadurch ein gutes Gefühl zu bekommen. Gelingt es, wachsendes Interesse nicht nur im privaten Umfeld, sondern ebenso für öffentlich einsehbaren Accounts zu generieren, ändern nur wenige ihr Vorgehen.
Infrage gestellt wird dieser Trend umso mehr, weil sich – ebenso schnell wie eine naive Handhabung des „Sharing-Buttons“ – am Tag nach der Party die ernüchternde Scham über die geteilten Inhalte einstellen kann. Ein Selbstschutz der eigenen Intimsphäre, aber auch der anderer, etwa der eigenen Kinder oder anderer Partygäste, ist in der Bedienung der Accounts nur zum Teil gewollt, so die Kritik weiter. Erst wenn mit dem Offenlegen der eigenen Privat- und Intimsphäre gegen einschränkende Nutzungsbedingungen verstoßen wird, schalten sich die Medienunternehmen ein. Offenherzige Account-Betreiber beugen sich meist erst, weil die Löschung bestimmter Inhalte oder sogar des gesamten Accounts im Raum steht.
„Wir Menschen sind ursprünglich Herdentiere und sehr gemeinschaftsorientiert,“ erläutert Hausschild. Ihrer Auffassung nach mangelt es heutzutage an Möglichkeiten, sich Gemeinschaften anzuschließen oder sich verbunden fühlen zu können, teilweise auch in verminderter Form. Die dadurch fehlende Geselligkeit und der Austausch, der nur im Zusammenleben mit anderen Menschen stattfinden kann, werde möglicherweise über Soziale Medien kompensiert. „Das Mitteilungsbedürfnis wird dort jedoch in mitunter kurioser Form ausgelebt.“