ContraSport ohne Gewissen
Steuermillionen für Megastadien statt für Gesundheitsversorgung und Bildung: In den vergangenen Monaten haben auch fussballbegeisterte Brasilianer gegen die Prioritätensetzung ihrer Regierung rund um die WM protestiert. Kurz vor der WM ist die Stimmung angespannt. Ein bisschen unsicher sitzt die 59-jährige Brasilianerin Tanira Ferreira am Würzburger Küchentisch ihres Sohnes Lucas Silva. 8400 Kilometer entfernt ist sie […]
Steuermillionen für Megastadien statt für Gesundheitsversorgung und Bildung: In den vergangenen Monaten haben auch fussballbegeisterte Brasilianer gegen die Prioritätensetzung ihrer Regierung rund um die WM protestiert. Kurz vor der WM ist die Stimmung angespannt.
Ein bisschen unsicher sitzt die 59-jährige Brasilianerin Tanira Ferreira am Würzburger Küchentisch ihres Sohnes Lucas Silva. 8400 Kilometer entfernt ist sie von ihrer Heimat Muritiba, einem kleinen Ort im Osten Brasiliens. Pünktlich zur WM ist sie in den Urlaub nach Deutschland geflüchtet.
„Ich bin absolut unzufrieden mit den Umständen – deshalb will ich während der WM nicht in Brasilien sein“, erklärt Ferreira. Ferreira wählt die Abstimmung mit Füßen, ihr Protest ist ein stiller. „Ich hoffe, dass die Gäste unser schönes Land positiv erleben“, sagt sie. „Aber Weltmeister soll Brasilien nicht werden – angesichts der Missstände und der enormen Verschwendung von Steuergeldern für die WM drücke ich der Mannschaft nicht die Daumen.“
Massenproteste vor dem Confederations Cup
Gerade mal die Hälfte der Brasilianer unterstützt laut dem Meinungsforschungsinstitut Datafolha die WM im eigenen Land. Wie kann das sein, wo doch Brasilien Rekordmeister ist? Wie kann das sein in einem Land, das weltbekannte Stars wie Pelé oder Ronaldo hervorgebracht hat? In dem Fußball, so versicherte Politikwissenschaftler João Paulo Peixoto unlängst dem Deutschlandfunk, eine Religion ist?
Der angestaute Frust über die Missstände vor allem im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich kam kurz vor dem Confederations Cup vor einem Jahr zum Ausbruch. Die internationale Fußballprominenz wurde von steuerfinanzierter Polizei geschützt, während für den einfachen Brasilianer das Busticket immer teurer wurde. Megastadien wuchsen aus dem Boden, während es in den Krankenhäusern an allem fehlte. Tanira Ferreira kennt Betroffene: „Vier Krankenhäuser schickten eine Bekannte, die in den Wehen lag, weg – erst das fünfte war nicht überfüllt und ein Arzt konnte ihr helfen.“ Ihre Geschichte sei alles andere als ein Einzelfall.
Gewalttätige Demonstrationen gegen die Regierung begleiteten das Turnier. Unzählige Menschen aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft gingen in den Metropolen des Landes auf die Straße. Auch Lucas Silvas Cousins beteiligten sich. „Sie haben mir besonders von der Gewalt der Polizei gegen die Protestierenden erzählt“, so der 29-Jährige.
Negativschlagzeilen vor Sportereignissen
Sportliche Großereignisse fallen immer häufiger durch negative Schlagzeilen auf. Die Umstände der Sportevents in der nahen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stimmen nachdenklich. Russland als Ausrichter der Olympischen Winterspiele 2014 löste heftige Diskussionen wegen Menschenrechtsverletzungen und der Ukraine-Krise aus. Gegenüber der in Katar geplanten WM sind die Vorwürfe so heftig, dass die Austragung mittlerweile sogar angezweifelt wird.
Die internationalen Sportverbände verweisen derweil gern auf den rein sportlichen Aspekt ihrer Großveranstaltungen und verstecken sich hinter diesem Totschlagargument. „Die Verantwortung der Arbeitsrechte in Katar ist eine Verantwortung der Unternehmen“, sagte Fifa-Präsident Joseph Blatter im vergangenen Jahr.
Gesellschaftliche Verantwortung
Darf der internationale Sport im Zuge seiner Riesenveranstaltungen weiterhin die Augen vor politischen Missständen verschließen? Nein. Ist es an der Zeit, die Vergabe, Organisation und Durchführung sportlicher Großereignisse zu überdenken? Aber unbedingt.
Der Leiter des Deutschen Instituts für Sportmarketing, André Bühler, forderte auf Focus Online, die Sportverbände müssten „nachhaltig für menschenwürdige und demokratische Lebensbedingungen in den Gastgeberländern eintreten“. Sie müssten gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen.
Auch Lucas Silva wünscht sich: „Die Organisation solcher Ereignisse muss wirklich besser und ehrlicher werden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Welt komplett ohne Olympia und WM eine bessere wäre.“
Er hofft auf einen langsamen Wandel der Verhältnisse in Brasilien. „Durch die Proteste unter internationaler Aufmerksamkeit hat dieser Wandel einen guten Anstoß bekommen“, sagt Lucas Silva. Dass solche Veränderungen schon das nächste sportliche Großereignis in Brasilien, die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro, begleiten werden, ist wohl etwas utopisch.
Vielleicht können Mutter und Sohn aber doch irgendwann einmal ein internationales Sportevent in Brasilien in ihrer Heimat anschauen – mit der Gewissheit, dass auch ihre Gesellschaft davon profitiert. Möglich ist das aber nur, wenn die Verbände grundlegend umdenken. Ansonsten wird die Wut der Bürger solchen Ereignissen von ganz allein ihren Sinn entziehen.