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ContraIm Angstmodus

Von Bettina Ehbauer / 26. Dezember 2018
picture alliance / Sergey Nivens/Shotshop | Sergey Nivens

Angst wird in unserer Gesellschaft zunehmend zum lästigen Makel, den wir kontrollieren wollen. Dieser Ansatz ist zum Scheitern verurteilt.

Neulich lehnte ich im Schwimmbad nach dem Ziehen meiner Bahnen müde am Beckenrand in der Nähe des Dreimeterturms, als plötzlich ein Mann rief: „Los! In deinem Alter bin ich schon vom Fünfmeterturm gesprungen. Wir üben das jetzt so lange, bis du keine Angst mehr hast.“ Auf dem Sprungbrett schräg über mir stand ein etwa elfjähriger Junge, der sich nur zögerlich bis zur Kante vorwagte. Erst nachdem der Vater weitere fünf Minuten lang auf seinen Sohn eingeredet und damit gedroht hatte, beim Abendessen der gesamten Familie zu erzählen, was für ein Angsthase er sei, fasste sich der Junge ein Herz und sprang mit sichtlichem Unbehagen hinunter.

Die Angst ist tot – lang lebe die Angst!

Wir werden immer mehr darauf konditioniert, das Gefühl von Angst als einen Makel zu betrachten, den es auszumerzen gilt. Längst kommt diese Botschaft nicht mehr nur von Eltern, die um den Erfolg und die Durchsetzungsfähigkeit ihres Nachwuchses besorgt sind; sie ist vielmehr zu einem gesellschaftlichen Phänomen und nicht zuletzt auch zu einem profitablen Geschäft geworden. Mentaltrainer, Extremsportler und Marketingprofis gaukeln uns tagtäglich vor: Angst lähmt dich. Sie verhindert, dass du deine Ziele erreichst und glücklich bist. Erst wenn du deine Ängste überwindest, wirst du ein freier und zufriedener Mensch sein. Grundvoraussetzung für eine solche Botschaft ist die Einstellung selbst: Angst ist kontrollierbar. Du kannst lernen, sie auszuschalten. Dafür brauchst du nur das richtige Produkt, diesen Ratgeber oder jene Autobiografie. Probier’s aus!

Diese Heilsverprechen der Selbstoptimierungsbewegung sind gefährlich. Wenn mir ständig erzählt wird, dass Angst reine Kopfsache und – laut mancher Selbsthilfegurus – sogar eine bewusste Entscheidung ist, die ich überwinden kann, wenn ich es nur stark genug will, kann das fatale Folgen haben für all jene, die an der Überwindung ihrer Ängste scheitern. Dann liegt die Schlussfolgerung nahe: Ich werde es nie schaffen, meine Angst in den Griff zu bekommen. Und deshalb kann ich nie glücklich/frei/erfolgreich sein. Und schon sehen wir voller Bangen in die Zukunft. Das Bemühen, unsere Ängste zu kontrollieren, bewirkt also oft das genaue Gegenteil.

Meine Angst, ein Teil von mir

Sicher, in der Therapie von Angststörungen hat der Ansatz der Angstkontrolle einen berechtigten und wissenschaftlich fundierten Platz. Wenn sich Betroffene mit professioneller Unterstützung den Situationen stellen, die sie zuvor oft jahrelang aus Sorge vor schlimmen Folgen vermieden haben, wird ihre Angst mit der Zeit kleiner und verschwindet im besten Fall ganz. Von einer Angststörung spricht man meist dann, wenn ihr Auslöser objektiv betrachtet gar nicht bedrohlich ist, wie Spritzen, enge Räume oder das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel.

Wenn es hingegen um die alltäglichen, kleinen und größeren Sorgen von Menschen geht und nicht um eine Angststörung mit Krankheitswert, ist der Wunsch, die Angst zu kontrollieren und auszuschalten, wenig hilfreich. Zum einen, weil Angst zum menschlichen Dasein dazugehört, sie steckt seit Hunderttausenden von Jahren in unseren Genen: Erst die Angst vor dem Säbelzahntiger löste die lebensrettende Flucht aus und sorgte für das Überleben. Die Fähigkeit Angst zu verspüren kann also eine Überlebensfrage sein. Damals wie heute. Zum anderen, weil viele Ängste, die uns umtreiben, eben nicht jeglicher Grundlage entbehren, sondern ihre Ursache in unseren indiviuellen biografischen Erfahrungen oder den gesellschaftlichen Gegebenheiten unserer Zeit haben. Wer schon mehrfach arbeitslos geworden ist, sorgt sich natürlich, dass sich diese Situation wiederholen könnte. Und viele politische Entwicklungen der letzten Jahre haben selbst bei Menschen, die so schnell nichts aus der Ruhe bringt, das Gefühl der Sicherheit ins Wanken gebracht.

Unsere Ängste kontrollieren, also eliminieren zu wollen, ist deshalb in den meisten Fällen ineffektiv und manchmal sogar schädlich für unser Selbstbild. Wer das nicht wahrhaben will, verweigert die Realität. Stattdessen sollten wir einen anderen Umgang mit Angst lernen: Hinsehen statt wegsehen. Wir sollten anfangen, unsere Angst zu akzeptieren, anstatt sie zu verleugnen.

Zeig mir deine Angst und ich sag dir wer du bist

Was ist denn so schlimm daran, zu sagen „Ich habe Angst“ oder „Es gibt viele Dinge, die mir Sorgen bereiten“? Zeigt das nicht einfach, dass es in meinem Leben vieles gibt, das mir wichtig und bedeutsam ist? Wenn mir etwas egal ist, mache ich mir schließlich nicht allzu viele Gedanken darüber. Sich um Familienmitglieder und enge Freunde zu sorgen, bedeutet doch, dass es in meinem Leben Menschen gibt, zu denen ich innige Beziehungen habe und deren Wohlergehen mir wichtig ist. Wenn ich nicht halsbrecherisch ungesicherte Skipisten hinunterjage, weil mir das Herz bis zum Hals pocht, ist mir meine körperliche Unversehrtheit ein höheres Gut als der kurze Kick. Und wenn ich mich fürchte vor Krieg, Atomkatastrophen oder dem schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalt, ist das nicht einfach ein Zeichen von Empathie und Menschlichkeit?

Wir brauchen nicht weniger Angst und mehr Selbstkontrolle, um ein glückliches Leben zu führen. Gerade das Zulassen von Angst kann ein Weg sein zu mehr Zufriedenheit, Sinnhaftigkeit und einem besseren Miteinander. Lasst uns also mehr über unsere Ängste reden, sie in Bronze gießen, auf ein Podest heben und zum Mahnmal werden: Seht her, das ist meine Angst! Sie zeigt, was mir wichtig ist und wofür es sich für mich zu leben lohnt.



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